BAG Beschluss vom 18.02.2003 - 1 ABR 2/02
Entscheidungsstichwort (Thema)
Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit. Feststellungsinteresse. Betriebsverfassungsrecht. Prozeßrecht. Arbeitszeitrecht. Europäisches Gemeinschaftsrecht
Leitsatz (amtlich)
- Die Zuordnung von Bereitschaftsdienst zur Arbeitszeit iSd. Art. 2 Nr. 1 Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist auf die Verhältnisse in Deutschland übertragbar. Um dies feststellen zu können, bedarf es keines Vorabentscheidungsersuchens an den Europäischen Gerichtshof.
- Nach dem Arbeitszeitgesetz vom 6. Juni 1994 ist Bereitschaftsdienst nicht als Arbeitszeit anzusehen. Dies ergibt sich zwingend aus § 5 Abs. 3, § 7 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes. Ein der Richtlinie 93/104/EG entsprechendes anderes Verständnis ist auch im Wege der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nicht möglich.
- Hat der nationale Gesetzgeber eine europäische Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt, kommt eine unmittelbare Geltung und ein darauf beruhender Anwendungsvorrang der Richtlinie nur vertikal im Verhältnis zwischen Bürgern und öffentlichen Stellen, nicht auch horizontal im Verhältnis Privater untereinander in Betracht.
Orientierungssatz
- Ein vom Arbeitgeber erstellter Entwurf einer Betriebsvereinbarung begründet kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zum Betriebsrat iSd. § 256 ZPO. Zur Durchsetzung abweichender Regelungsvorstellungen steht dem Betriebsrat im Bereich zwingender Mitbestimmung sein Initiativrecht zur Verfügung.
- Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zählt Bereitschaftsdienst, wie ihn Ärzte und mit der Pflege beschäftigte Personen in Form persönlicher Anwesenheit in den Räumen einer spanischen Gesundheitseinrichtung leisten, zur Arbeitszeit iSd. Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993. Die entsprechende Auslegung der Richtlinie beruht nicht auf nationalen oder berufsspezifischen Besonderheiten. Sie ist deshalb auch für das Verständnis des Bereitschaftsdienstes in Deutschland maßgeblich; einer erneuten Vorlage an den Europäischen Gerichtshof bedarf es dazu nicht.
- Ein Verständnis des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit ist mit § 5 Abs. 3, § 7 Abs. 2 Nr. 1 ArbZG unvereinbar. Das Arbeitszeitgesetz vom 6. Juni 1994 hat die Richtlinie 93/104/EG insoweit nicht ordnungsgemäß umgesetzt: Indem es den Bereitschaftsdienst nicht der Arbeitszeit zuordnet, ermöglicht es eine Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden nach Art. 6 Nr. 2 der Richtlinie; das gleiche gilt mit Blick auf die Verlängerungsmöglichkeit bei Arbeitsbereitschaft gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1a ArbZG.
- Zur Anpassung des deutschen Rechts an die Vorgabe der Richtlinie steht den Gerichten für Arbeitssachen nur das Instrument der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zur Verfügung. Angesichts der systematisch eindeutigen, dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers entsprechenden Regelung des Arbeitszeitgesetzes ist eine solche Auslegung ausgeschlossen; sie käme einer Teilaufhebung des Gesetzes gleich; diese ist den Gerichten für Arbeitssachen gemäß Art. 20 Abs. 3 GG verwehrt.
- Europäisches Gemeinschaftsrecht beansprucht grundsätzlich Vorrang vor entgegenstehendem nationalen Recht. Voraussetzung ist, daß ihm unmittelbare Geltung und Wirkung für die Bürger der Mitgliedstaaten zukommt. Bei Richtlinien, die sich ausschließlich an die Mitgliedstaaten selbst wenden, ist dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nur der Fall, wenn sie inhaltlich hinreichend bestimmte und unbedingte Regelungen enthalten, die Frist zu ihrer Umsetzung abgelaufen ist und es sich um eine Anspruchsbeziehung zwischen Bürger und “Staat” handelt. Eine unmittelbare (horizontale) Wirkung von Richtlinien im Verhältnis von Privatrechtssubjekten scheidet aus.
- Ein Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes ist regelmäßig kein staatlicher Arbeitgeber im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
Normenkette
GG Art. 20 Abs. 3; EG Art. 10, 249 Abs. 3; ArbZG §§ 3, 5 Abs. 3, § 7 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 2 Nr. 1; Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 Art. 1 Nr. 1; Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 Art. 6; Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 Art. 16 Nr. 2; Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 Art. 17 Abs. 3; Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 Art. 17 Abs. 4; Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 Art. 18 Abs. 1 Buchst. b; Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 Art. 2 Nr. 1; ArbGG § 96a; ZPO § 256; Tarifvertrag (West) über Arbeitsbedingungen für Angestellte, Arbeiter und Auszubildende des Deutschen Roten Kreuzes i.d.F. vom 9. Juni 1999 § 14
Tenor
- Auf die Sprungrechtsbeschwerde des Arbeitgebers wird der Beschluß des Arbeitsgerichts Freiburg – Kammern Villingen-Schwenningen – vom 28. November 2001 – 12 BV 1/01 – aufgehoben.
- Die Anträge des Betriebsrats werden abgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
A. Die Beteiligten streiten über den Umfang der im Betrieb zulässigen Höchstarbeitszeit.
Der Arbeitgeber ist ein Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes. Er betreibt in seinem Gebiet den Rettungsdienst nach Maßgabe des baden-württembergischen Rettungsdienstgesetzes.
Auf die Arbeitsverhältnisse der im Betrieb Beschäftigten findet der Tarifvertrag (West) über Arbeitsbedingungen für Angestellte, Arbeiter und Auszubildende des Deutschen Roten Kreuzes idF vom 9. Juni 1999 (DRK-TV) Anwendung. § 14 des Tarifvertrags hat folgenden Wortlaut:
“Regelmäßige Arbeitszeit
(1) Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen durchschnittlich 39 (ab 01.04.1990: 38 1/2 Stunden) wöchentlich. Für die Berechnung des Durchschnitts der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ist in der Regel ein Zeitraum von 26 Wochen zugrunde zu legen.
Bei Mitarbeitern, die ständig Wechselschicht- oder Schichtarbeit zu leisten haben, kann ein längerer Zeitraum zugrunde gelegt werden.
(2) Die regelmäßige Arbeitszeit kann verlängert werden
a) bis zu zehn Stunden täglich (durchschnittlich 49 Stunden wöchentlich), wenn in sie regelmäßig eine Arbeitsbereitschaft von durchschnittlich mindestens zwei Stunden täglich fällt,
b) bis zu 11 Stunden täglich (durchschnittlich 54 Stunden wöchentlich), wenn in sie regelmäßig eine Arbeitsbereitschaft von durchschnittlich mindestens drei Stunden täglich fällt,
c) bis zu 12 Stunden täglich (durchschnittlich 60 Stunden wöchentlich), wenn der Mitarbeiter lediglich an der Arbeitsstelle anwesend sein muß, um im Bedarfsfall vorkommende Arbeiten zu verrichten.
…
(5) Der Mitarbeiter ist verpflichtet, sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufzuhalten, um im Bedarfsfalle die Arbeit aufzunehmen (Bereitschaftsdienst). Der Arbeitgeber darf Bereitschaftsdienst nur anordnen, wenn zu erwarten ist, daß zwar Arbeit anfällt, erfahrungsgemäß aber die Zeit ohne Arbeitsleistung überwiegt.
…”
Für Mitarbeiter im Rettungsdienst und Krankentransport bestimmt eine Protokollnotiz zu § 14 Abs. 2 DRK-TV:
“Die Möglichkeit zur Verlängerung der regelmäßigen Arbeitszeit nach § 14 Abs. 2 DRK-Tarifvertrag wird wie folgt eingeschränkt:
…
Ab 01. Januar 1993:
§ 14 Abs. 2a: Von 47 Stunden/Woche auf 45 Stunden/Woche.
§ 14 Abs. 2b: Von 51 Stunden/Woche auf 49 Stunden/Woche.
§ 14 Abs. 2c: Von 56,5 Stunden/Woche auf 54 Stunden/Woche.”
Arbeitgeber und Betriebsrat unterzeichneten am 26. Januar 1996 zum Abschluß von Verhandlungen folgendes Protokoll:
“Der Kreisverband wird für alle diejenigen Arbeitnehmer im Rettungsdienst, deren regelmäßige Arbeitszeit bisher auf 54 Stunden wöchentlich verlängert war, mit Wirkung vom 01.02.1996 diese auf 49 Stunden festsetzen.
Der Betriebsrat nimmt dies zustimmend zur Kenntnis und schließt auf dieser Grundlage mit dem Kreisverband folgende
BETRIEBSVEREINBARUNG:
§ 1
Der Betriebsrat stimmt der als Anlage beigefügten Personal-, Schicht- und Dienstplanung zu.
§ 2
Die Pausenzeiten der auf dem Krankentransportwagen eingesetzten Besatzung werden auf die Erbringung der regelmäßig verlängerten Arbeitszeit angerechnet.
§ 3
Als Ausgleichszeitraum für die Errechnung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im Sinne von § 14, Abs. 1 DRK-Tarifvertrag wird auf jeder Wache die doppelte Länge des dort jeweils geltenden Schichtplanzyklus zugrunde gelegt. …
§ 15
… (Die Betriebsvereinbarung) kann mit einer Frist von sechs Monaten zum 30.06. und 31.12. eines jeden Jahres gekündigt werden. … Diese Vereinbarung bleibt bis zum Abschluß einer neuen Vereinbarung in Kraft.”
Als Anlage enthält die Betriebsvereinbarung fünf Tabellen. Sie betreffen die “Personal-, Schicht- und Dienstplanung” der Rettungsleitstelle, des Notarztdienstes und dreier Rettungswachen. Die Tabellen enthalten die genaue Angabe von Beginn und Ende der verschiedenen Dienste, die sich daraus ergebende Anzahl der jeweiligen Dienststunden, die jeweilige Dienstart – “Volldienst”, Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst – und den jeweiligen “Vollzeitfaktor”. Dieser wird bei “Volldienst” mit 1,000, bei Arbeitsbereitschaft mit 0,786 und bei Bereitschaftsdienst mit 0,500 angegeben. Zuletzt wird die daraus ermittelte Anzahl der Planstellen ausgewiesen.
Für den überwiegenden Teil der Beschäftigten des Arbeitgebers beträgt die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit 49 Stunden. In die Durchschnittsberechnung geht der tarifliche Urlaubsanspruch, soweit er den gesetzlichen Mindestanspruch übersteigt, als Freizeit ein. Im Fall von Bereitschaftsdienst wird die Hälfte der damit tatsächlich verbundenen Dienststunden auf die Arbeitszeit angerechnet.
Mit Schreiben vom 18. Dezember 2000 kündigte der Betriebsrat die Betriebsvereinbarung vom 26. Januar 1996 zum 30. Juni 2001. In einem Schreiben vom 14. August 2001 verlangte er vom Arbeitgeber die Aufstellung eines Rahmendienstplans, der wöchentliche Arbeitszeiten einschließlich der Bereitschaftsdienstzeiten von nicht mehr als 48 Stunden im Durchschnitt eines Zeitraums von 12 Monaten vorsehen solle. Der Arbeitgeber lehnte aus Kostengründen ab.
Der Betriebsrat leitete daraufhin das vorliegende Beschlußverfahren ein. Er hat die Auffassung vertreten, die betrieblichen Höchstarbeitszeiten müßten die Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 (Arbeitszeit-Richtlinie) berücksichtigen. Danach dürfe die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit 48 Stunden nicht überschreiten. Auch seien Bereitschaftsdienstzeiten, während derer sich die Beschäftigten in der Einrichtung aufhalten müßten, nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Oktober 2000 (Rs. C-303/98 – [SIMAP]) in vollem Umfang als Arbeitszeit zu bewerten. Das deutsche Arbeitszeitgesetz von 1994 habe die Arbeitszeit-Richtlinie nicht korrekt umgesetzt. Diese sei deshalb unmittelbar anwendbares Recht. Zumindest seien die Arbeitszeitbestimmungen des DRK-TV gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Bei der Ermittlung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit sei eine Berücksichtigung des den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigenden Tarifurlaubs unzulässig.
Der Betriebsrat hat zuletzt beantragt
- festzustellen, daß der Arbeitgeber einen Rahmendienstplan für den Rettungsdienst nur innerhalb folgender Grenze aufstellen darf: Die wöchentliche Arbeitszeit unter Einbeziehung der Bereitschaftsdienstzeiten darf nicht mehr als 48 Stunden im Durchschnitt bei einem Ausgleichszeitraum von höchstens 12 Monaten betragen, wobei der tarifliche und/oder gesetzliche Urlaub, auch soweit er den Mindestanspruch nach Art. 7 der Richtlinie 93/104 des Rates der Europäischen Union übersteigt, bei der Berechnung des Durchschnitts unberücksichtigt zu bleiben hat;
-
festzustellen, daß die Betriebsvereinbarung vom 26. Januar 1996 insoweit unwirksam ist, als sie
- in der Präambel eine Arbeitszeit von 49 Stunden wöchentlich vorsieht,
- nach § 1 in Verbindung mit den Anlagen eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit unter Einbeziehung der Bereitschaftsdienstzeiten von mehr als 48 Stunden im Durchschnitt bei einem Ausgleichszeitraum von höchstens 12 Monaten ermöglicht, wobei der tarifliche und/oder gesetzliche Urlaub, auch soweit er den Mindestanspruch nach Art. 7 der Richtlinie 93/104 des Rates der Europäischen Union übersteigt, bei der Berechnung des Durchschnitts unberücksichtigt zu bleiben hat.
Der Arbeitgeber hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Er hat die Ansicht vertreten, der Rettungsdienst als eine mit dem Katastrophenschutz vergleichbare Einrichtung falle nicht in den Geltungsbereich der Arbeitszeit-Richtlinie. Im übrigen seien die Arbeitszeitbegriffe des Arbeitszeitgesetzes und der Arbeitszeit-Richtlinie nicht identisch. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Oktober 2000 habe bindende Wirkung nur für das mit dem Ausgangsverfahren befaßte spanische Gericht. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz zähle dagegen der Bereitschaftsdienst grundsätzlich nicht als Arbeitszeit. Die Arbeitszeit-Richtlinie gelte allenfalls für öffentliche Arbeitgeber unmittelbar. Ein solcher sei er nicht, auch wenn der Rettungsdienst eine öffentliche Aufgabe darstelle.
Das Arbeitsgericht hat den Anträgen in vollem Umfang stattgegeben und die Sprungrechtsbeschwerde zugelassen. Mit dieser bittet der Arbeitgeber weiterhin um Abweisung der Anträge.