Hessisches LAG Urteil vom 20.03.2012 - 19 Sa 1020/11
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung. Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit. Kündigung [Tat- und Verdachtskündigung]
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit ist geeignet, eine außerordentliche Kündigung an sich zu rechtfertigen, da der Arbeitnehmer durch Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit regelmäßig einen Betrug zu Lasten des Arbeitgebers begehen wird; denn durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung veranlasst er den Arbeitgeber unter Vortäuschung falscher Tatsachen dazu, ihm unberechtigterweise Entgeltfortzahlung zu gewähren.
2. Legt der Arbeitnehmer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, kann eine Tatkündigung nur dann erfolgreich ausgesprochen werden, wenn der Arbeitgeber deren Beweiswert erschüttern kann.
3. a) Auch die auf den Verdacht des Vortäuschens von Arbeitsunfähigkeit gestützte Kündigung kommt jedoch ur in Betracht, wenn gewichtige, auf objektive Tatsachen gestützte dringende Verdachtsmomente vorliegen und diese geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Ein dringender Verdacht liegt nur vor, wenn bei kritischer Prüfung eine auf Beweistatsachen (Indizien) gestützte große Wahrscheinlichkeit für eine erhebliche Pflichtverletzung des Arbeitnehmers besteht.
b) Der entsprechende Verdacht muss es dem Arbeitgeber unzumutbar machen, mit dem Arbeitnehmer weiter zusammenzuarbeiten.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 04. Mai 2011 - 3 Ca 2315/10 - abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die mit Schreiben der Beklagten vom 21.12.2010 erklärte außerordentliche Kündigung aufgelöst worden ist.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Bedingungen als Wagenpfleger an der Waschanlage zu beschäftigen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Tat-, hilfsweise Verdachtskündigung und um die Weiterbeschäftigung des Klägers.
Der Kläger, der am A geboren, geschieden und vier Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist und der einen Grad der Behinderung von 50 aufweist, ist bei der beklagten Stadt seit dem 09. August 1993 beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis richtet sich gemäß § 3 des Arbeitsvertrags vom 10. August 1993 (Bl. 4 f d. A.) nach dem Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltung und Betriebe (BMT- G II) vom 31. Januar 1962, den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen, den für den Bereich des Arbeitgebers geltenden Tarifverträgen in der jeweils geltenden Fassung sowie den zwischen dem Arbeitgeber und der Personalvertretung geschlossenen und noch abzuschließenden Dienstvereinbarungen. Der Kläger war im Entsorgungsbetrieb der Beklagten eingesetzt. Sein Entgelt betrug zuletzt ca. 3.000,00 EUR brutto monatlich.
Der Kläger wies erhebliche Arbeitsunfähigkeitszeiten auf. Diese betrugen seit 2001:
2001 |
246 Arbeitstage |
2002 |
49 Arbeitstage |
2003 |
50 Arbeitstage |
2004 |
28 Arbeitstage |
2005 |
23 Arbeitstage |
2006 |
59 Arbeitstage |
2007 |
198 Arbeitstage |
2008 |
214 Arbeitstage |
2009 |
194 Arbeitstage |
2010 |
43 Arbeitstage (bis 16. Juli 2010) |
Diese Arbeitsunfähigkeitszeiten beruhten auf unterschiedlichen Erkrankungen bzw. Unfällen. Beschwerden im Knie, der Schulter und am Halswirbel führten zu dauerhaften gesundheitlichen Einschränkungen, sodass der Kläger zuletzt nur noch eingeschränkt eingesetzt werden konnte. Der Kläger war zunächst als Mülllader eingesetzt. Nachdem er bei einem Unfall im Jahr 2001 eine Verletzung am Knie und Fuß erlitten hatte, die in den Folgejahren zu weiteren Ausfallzeiten führte, ordnete der Betriebsarzt an, dass der Kläger keine Tätigkeiten ausschließlich im Gehen verrichten sollte. Der Kläger wurde sodann als Beifahrer auf dem Sperrmüllwagen eingesetzt. Bei einem Arbeitsunfall im Jahr 2006 erlitt der Kläger eine Rippenfraktur und eine Thoraxprellung. Im Jahre 2007 zog sich der Kläger eine Schulterverletzung zu. Aufgrund der anhaltenden Beschwerden im Knie und der Schulter schloss der Betriebsarzt im Dezember 2007 eine Tätigkeit mit weiten Gehstrecken oder ausschließlich im Gehen und eine mit regelmäßigem schweren Heben und Tragen verbundene Tätigkeit aus. Am 13. Mai 2008 wurde der Kläger in der Tonnenwerkstatt eingesetzt. Nach einer langen Arbeitsunfähigkeitszeit, die u.a. auf Beschwerden und einer Operation an der Schulter, einer Rippenfraktur und einem Bandscheibenvorfall am Halswirbel beruhte, wurde der Einsatz in der Tonnenwerkstatt ab dem 01. August 2009 nach einer betriebsärztlichen Untersuchung fortgesetzt. Die Betriebsärztin war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Einschränkungen (keine weiten Gehstrecken, kein Stehen und Gehen über mehrere Stunden am Stück, kein regelmäßiges schweres Heben und Tragen) diesem Einsatz nicht entgegen ständen. Wegen Einzelheiten der Krankheitsursachen wird auf die Aufstellung der B vom 11. Februar 2011 (Bl. 196 f. d.A.) und des behandelnden Arztes C vom 15. August 2011 (Bl. 299 d.A.) Bezug genommen; wegen der Einzelheiten zur Einsetzbarkeit des Klägers wird auf das Protokoll des Personalgesprächs vom 27. Oktober (Bl. 405 ff. d.A.) verwiesen. Nach weiteren Arbeitsunfähigkeitszeiten, u.a. wegen Rippenbruchs, Thoraxprellung und Meniskusschädigungen, teilte die Betriebsärztin mit, dass eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes dauerhaft nicht absehbar wäre. Daraufhin bot die Beklagte dem Kläger im Juli 2010 den Abschluss eines Aufhebungsvertrags an; der Kläger lehnte das Angebot ab.
Am 05. Oktober 2010 hatte der Kläger die Aufgabe, zusammen mit zwei Kollegen gestapelte Mülltonnen von einem LKW-Anhänger abzuladen. Während der Kläger und ein Kollege, auf dem LKW-Anhänger stehend, die Tonnenstapel an die Anhängerkante schoben, hob der weitere Kollege die Tonnenstapel mit dem Gabelstapler vom LKW-Anhänger herunter. Ob er dabei, statt zurückzusetzen, den Tonnenstapel nach links schwenkte, sodass der Kläger zwischen der Seitenwand des LKW-Anhängers und dem Tonnenstapel eingequetscht wurde, ist zwischen den Parteien streitig. Da der Kläger über Schmerzen klagte, schickten ihn seine Kollegen in das Werkstattbüro. Von dort wurde der Krankenwagen gerufen, der den Kläger ins Krankenhaus brachte. Laut Bericht des Durchgangsarztes D vom selben Tage, wegen dessen weiteren Inhalts auf Bl. 146 d. A. Bezug genommen wird, lauteten Befund und Erstdiagnose wie folgt:
"Befund
Schmerzen LWS ins linke Bein ziehend, Becken stabil, paresen des li. Beines, Kraftgrad 1-2, Sensibilität intakt, übrige Extremitäten frei beweglich, Abdomen weich.
Sono (Niere, Blase, Milz) ohne pathologischen Befund
Röntgenergebnis
Becken, Inlet, Outlet: Kein Hinweis für frische knöcherne Verletzung
CT LWS
Erstdiagnose
Prellung LWS
Prellung Becken
V. a. Contusio spinalis"
Der Kläger wurde stationär aufgenommen. Es wurde ihm Arbeitsunfähigkeit mit der Angabe attestiert, dass er voraussichtlich am 09. Oktober 2010 wieder arbeitsfähig sein werde. Am Abend des 06. Oktober 2010 wurde der Kläger aus dem Krankenhaus entlassen.
Am 07. Oktober 2010 suchte der Kläger C auf. Dieser stellte dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 07. Oktober 2010 bis 01. November 2010 aus. Er verschrieb dem Kläger Medikamente, verordnete ihm Leistungen der Krankengymnastik und Massage, welche der Kläger ab dem 20. Oktober 2010 zweimal wöchentlich in Anspruch nahm. Ferner überwies er ihn wegen des Verdachts auf Verletzung des Rückenmarks zu einem Neurologen. In der Überweisung, wegen deren genauen Inhalts auf Bl. 231 d.A. Bezug genommen wird, sind als Diagnosen/Verdacht genannt Beckenprellung, LWS- Prellung sowie Verletzung des Rückenmarkes V.
Am frühen Morgen des 08. Oktober 2010 wurde der Kläger wegen eines alkoholbedingten Zusammenbruchs stationär behandelt und dann vom 08. - 12. Oktober 2010 in der Psychiatrie der Klinik Eichberg untergebracht. Am 20. Oktober 2010 besuchten die Personalleiterin der Beklagten und deren Stellvertreterin den Kläger, um ihm eine Einladung zum Personalgespräch am 27. Oktober 2010 zu übergeben. Auf Frage nach seinem Gesundheitszustand erklärte der Kläger, dass er Schmerzen im Hals- und Schulterbereich habe und Krankengymnastik verordnet bekommen habe. In dem Personalgespräch vom 27. Oktober 2010 gab der Kläger an, dass er für seine Halswirbel Krankengymnastik und Massage bekomme. Am Ende des Gespräches wurde festgelegt, dass der Kläger nach seiner Genesung an der Waschanlage mit Aufgaben wie z. B. Einweisen der Fahrzeuge, Bedienen der Waschanlage, Überprüfen der Reinigungsmittel und Reinigung der Waschanlage beschäftigt werde.
Am 28. Oktober 2010 suchte der Kläger erneut C auf, der eine Folgebescheinigung für die Zeit vom 28. Oktober bis 01. Dezember 2010 ausstellte. Daraufhin beauftragte die Beklagte E, der im Gesundheitsamt der Beklagten tätig ist, mit der Erstellung eines amtärztlichen Gutachtens zur Frage, ob die Attestierung der Arbeitsunfähigkeit für die anfallenden Arbeiten an der Waschanlage bis zum 01. Dezember 2010 berechtigt sei. Auf Grund der Untersuchung vom 10. November 2010 erstellte E ein Gutachten, wegen dessen Inhalt auf Bl. 62 f d. A. Bezug genommen wird. Am Folgetag untersuchte der Neurologe F den Kläger. Wegen des Ergebnisses der Untersuchung wird auf sein Schreiben vom 11. November 2010 (Bl. 236 f d. A.) Bezug genommen. Nachdem die Beklagte das Gutachten von E erhalten hatte, lud sie den Kläger mit Schreiben vom 24. November 2010 zum Personalgespräch am 26. November 2010 ein. Am 26. November 2010 teilte der Kläger telefonisch mit, das Personalgespräch krankheitsbedingt nicht wahrnehmen zu können. Auf den Hinweis, er müsse eine Wegeunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, sagte er zu, diese vorbeizubringen. Nachdem er darauf hingewiesen worden war, in diesem Fall nicht wegeunfähig zu sein, erklärte er, dass sein Schwager diese vorbeibringen würde. Am gleichen Tag bescheinigte C, bei dem der Kläger am 8., 15., 22., 25. und 26. November 2010 Behandlungstermine wahrgenommen hatte, dass der Kläger wegen der am 28. Oktober 2010 bis zum 01. Dezember 2010 attestierten Arbeitsunfähigkeit nicht in der Lage sei, ein Fahrzeug zu führen oder längere Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Am 30. November 2010 erstellte C einen Zwischenbericht für die Unfallkasse. In diesem Bericht ist angegeben, dass der Kläger als Kraftfahrzeugfahrer beschäftigt sei. Als Diagnose ist "akute Belastungsreaktion" angegeben. Es wird weiter mitgeteilt, dass der Kläger am 03. November 2010 einen privaten PKW-Unfall erlitten habe und dass daher eine erhebliche Wirbelsäulenproblematik bestehe. Insgesamt vermischten sich die Symptomatiken. Der Kläger sei bis 01. Dezember berufsgenossenschaftlich und danach kassenärztlich arbeitsunfähig. Ab 01. Dezember solle eine Wiedereingliederung erfolgen. Wegen des weiteren Inhalts des Berichts wird auf Bl. 444 d.A. Bezug genommen. Am 01. Dezember 2010 legte der Kläger der Beklagten einen Wiedereingliederungsplan für die Zeit vom 01. Dezember bis 20. Dezember 2010 vor. Darin ist angegeben, dass der Kläger zuletzt als "Arbeiter" beschäftigt wurde. Darauf hin veranlasste die Beklagte eine betriebsärztliche Untersuchung und fügte dem Untersuchungsauftrag an den betriebsärztlichen Dienst das Gutachten von E bei. Die Betriebsärztin teilte mit, nicht entscheiden zu können, ob der Kläger arbeitsfähig sei, dies könne allein C entscheiden. Als die Beklagte die Wiedereingliederungsmaßnahme ablehnte, berief sich der Kläger darauf, infolge des Autounfalls vom 03. November 2010, bei dem ihm ein anderes Auto in die Seite gefahren sei, noch Schmerzen zu haben. Mit Schreiben vom 01. Dezember 2010, wegen dessen Wortlaut auf Bl. 399 d.A. Bezug genommen wird, teilte die Unfallkasse mit, in der Unfallsache keine weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mehr zu akzeptieren, ab dem 06. Dezember 2010 sei der Kläger vollschichtig arbeitsfähig; einer Arbeits- und Belastungsprobe werde nicht zugestimmt. Am 02. Dezember 2010 bescheinigte C dem Kläger, die Wiedereingliederung auf eigenen Wunsch aus Angst um seinen Arbeitsplatz abgebrochen zu haben; der Kläger werde ab sofort wieder vollschichtig arbeiten. Mit Schreiben vom 09. Februar 2011 erkannte die Unfallkasse Hessen den Unfall vom 05. Oktober 2010 als Arbeitsunfall an.
Nachdem die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 26. November 2010 (Bl. 65 - 67 d.A.) zum Verdacht des Vortäuschens der Arbeitsunfähigkeit angehört und der Kläger mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 03. Dezember 2010 Stellung genommen hatte, hörte die Beklagte mit Schreiben vom 07. Dezember 2010 den Personalrat zu der beabsichtigten außerordentlichen, fristlosen Tatkündigung, hilfsweise Verdachtskündigung an. Am gleichen Tag informierte die Beklagte den Vertreter der Schwerbehindertenvertretung über die beabsichtigte Kündigung. Ebenfalls mit Schreiben vom 07. Dezember 2010 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des mit dem Kläger bestehenden Arbeitsverhältnisses. Nachdem die Beklagte am 21. Dezember 2010 den Zustimmungsbescheid vom 20. Dezember 2010 erhalten hatte, kündigte sie das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos mit Schreiben vom 21. Dezember 2010, das dem Kläger noch am 21. Dezember 2010 zuging. Mit der am 27. Dezember 2010 beim Arbeitsgericht Wiesbaden eingegangenen und der Beklagten am 29. Dezember 2010 zugestellten Klage richtet sich der Kläger gegen diese Kündigung.
Der Kläger hat bestritten, den Arbeitsunfall und die Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht zu haben. Unter Entbindung der behandelnden Ärzte, D und C, von der ärztlichen Schweigepflicht hat er hierzu vorgetragen, der Gabelstaplerfahrer habe den Tonnenstapel angehoben und den Gabelstapler auf der Stelle gedreht, sodass er zwischen dem Tonnenstapel und der LKW-Anhängerbordwand eingequetscht worden sei. Erst auf Grund seines Schreis habe der Gabelstaplerfahrer den Gabelstapler zurückgedreht. C habe am 07. Oktober 2010 eine Hämatomverfärbung an der linken Beckenschaufel und am Gesäß festgestellt, die sich bis auf den Oberschenkel erstreckt habe. Er habe zudem Bewegungseinschränkungen festgestellt und damit die Diagnose des Durchgangsarztes bestätigt. Da sich durch den Arbeitsunfall vom 05. Oktober 2010 die Schmerzen in der linken Schulter, die bis in den Bereich der Halswirbelsäule ausstrahlten, verstärkt hätten, habe C zusätzlich Krankengymnastik und Massage verordnet. Am 28. Oktober 2010 habe C auf Grund einer neuerlichen Untersuchung das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit festgestellt. Das sei aus Sicht des Klägers berechtigt gewesen, weil er immer noch unter starken Schmerzen gelitten habe und nicht in der Lage gewesen sei, seine Arbeitstätigkeit auszuüben. Am 03. November 2010 habe er einen Verkehrsunfall erlitten, in dessen Folge sich die Schmerzen in der linken Schulter und der Wirbelsäule verstärkt hätten.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die mit Schreiben der Beklagten vom 21. Dezember 2010 erklärte außerordentliche Kündigung aufgelöst worden ist;
2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Bedingungen als Wagenpfleger an der Waschanlage zu beschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat behauptet, der Kläger habe den Arbeitsunfall und die Arbeitsunfähigkeit in der Zeit vom 05. Oktober - 01. Dezember 2010 lediglich vorgetäuscht und sich auf diese Weise betrügerisch die Entgeltfortzahlung durch die Beklagte erschlichen. Die Arbeitskollegen hätten den vermeintlichen Arbeitsunfall nicht gesehen. Der Kläger sei zunächst gehumpelt, auf halber Strecke zum Werkstattbüro aber wieder normal gegangen. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch das amtsärztliche Gutachten vom 15. November 2010 erschüttert bzw. widerlegt sei. E habe eindeutig festgestellt, dass es keine diagnostizierbaren Verletzungen und keine Gründe für die attestierte Arbeitsunfähigkeitsdauer gebe. Der Kläger habe seinerseits das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit nicht substantiiert vorgetragen, sondern widersprüchliche Angaben zum Krankheitsverlauf gemacht. Es werde bestritten, dass der Kläger unter Beschwerden im Schulter- und Halsbereich gelitten habe; dies sei von C nicht diagnostiziert worden. Im Personalgespräch vom 27. Oktober 2010 sei von Schmerzen in der Schulter, im Rücken, im Becken oder am Oberschenkel keine Rede gewesen. Es werde bestritten, dass der Kläger am 03. November 2010 einen Autounfall erlitten habe und dass seine Beschwerden sich dadurch verschlimmert hätten. Dagegen spräche schon, dass der Kläger - unstreitig - am 03. November 2010 den Arzt nicht aufgesucht und den Unfall gegenüber E nicht erwähnt habe.
Das Arbeitsgericht Wiesbaden hat die Klage durch Urteil vom 04. Mai 2011 - 3 Ca 2315/10 - abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, das Arbeitsverhältnis sei durch die Kündigung vom 21. Dezember 2010 aufgelöst worden. Die Kündigung sei wegen des Verdachts des Vortäuschens der Arbeitsunfähigkeit gerechtfertigt. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei durch das amtsärztliche Gutachten vom 15. November 2010 erschüttert. Daher sei es Sache des Klägers gewesen vorzutragen, welche konkreten gesundheitlichen Einschränkungen bestanden hätten und welche Verhaltensmaßregeln der Arzt gegeben habe. Dieser Darlegungslast sei der Kläger nicht gerecht geworden. Es sei nicht ersichtlich, warum der Kläger in dem streitgegenständlichen Zeitraum nicht in der Lage gewesen sein soll, die körperlich wenig herausfordernde Tätigkeit an der Waschanlage auszuüben. Eine Abmahnung sei entbehrlich, weil der Kläger habe erkennen müssen, dass die Beklagte das Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit als erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Verhalten ansehen werde.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden ist dem Kläger am 07. Juli 2011 zugestellt worden. Die Berufung ist am 20. Juli 2011 und die Berufungsbegründung am 05. September 2011 beim Hessischen Landesarbeitsgericht eingegangen.
Der Kläger bestreitet, den Arbeitsunfall vorgetäuscht zu haben. Für einen solchen Vorwurf gebe es keinen Anhaltspunkt. Er bestreitet, die Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht zu haben. Er meint, das Gutachten von E erschüttere den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht. Das gelte schon deshalb, weil die Untersuchung bei E erst am 10. November 2010 stattgefunden habe und zu berücksichtigen sei, dass Krankheitsverläufe von Mensch zu Mensch unterschiedlich seien. Zudem sei das Gutachten nicht von Objektivität getragen. Das Arbeitsgericht habe die Anforderungen an seine Darlegungslast überspannt. Er habe nach seinen Fähigkeiten die Verletzungen und Beschwerden dargelegt. Ergänzend behauptet er, dass ihm nach dem Arbeitsunfall die gesamte linke Seite einschließlich Knie, Schulter und Nacken wehgetan habe, dass am Becken ein Hämatom gewesen sei und dass er ein Taubheitsgefühl im linken Bein und Sensibilitätsstörungen im linken Arm gehabt habe. Am 28. Oktober 2010 habe er immer noch Schmerzen an der linken Seite, insbesondere im Schulter- und Nackenbereich, und Sensibilitätsstörungen in der linken Hand und im linken Arm gehabt, so dass er auf die Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seines Arztes vertraut habe. Infolge des Autounfalls vom 03. November 2010 seien die Beschwerden im Hals- und Schulterbereich verstärkt worden. Er habe den Arzt nicht unmittelbar nach dem Autounfall aufgesucht, weil er die Verschlimmerung der vorhandenen Beschwerden als nicht so gravierend empfunden habe und weil er bereits eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gehabt habe. Seit dem Unfall vom 03. November 2010 sei er nicht mehr selbst Auto gefahren, sondern habe sich von seiner geschiedenen Ehefrau fahren lassen. Seine Ansicht, auch aufgrund des psychischen Zustands nicht mehr fahrtüchtig zu sein, habe C geteilt. Von den Zweifeln der Beklagten an der Arbeitsunfähigkeit und dem Inhalt des Gutachtens von E habe er erstmals - was zwischen den Parteien unstreitig ist - mit der Anhörung zur Kündigung erfahren. Dass er seine Beschwerden einmal unrichtig der rechten Seite zugeordnet habe, beruhe auf einer Verwechslung von rechts und links. Die Fangomassagebehandlungen seien zusammen mit physiotherapeutischen Anwendungen durchgeführt worden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 04.05.2011 - 3 Ca 2315/10 - abzuändern und
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die mit Schreiben der Beklagten vom 21.12.2010 erklärte außerordentliche Kündigung aufgelöst worden ist;
2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Bedingungen als Wagenpfleger in der Waschanlage zu beschäftigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens. Sie behauptet, dass der Kläger den Arbeitsunfall oder zumindest die über den 07. Oktober 2010 hinausgehende Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht habe. Gegen die Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von C spreche schon die Angabe des Durchgangsarztes, der Kläger sei voraussichtlich ab 09. Oktober 2010 wieder arbeitsfähig. Das Gutachten von E bestätige, dass der Kläger zumindest ab 10. November 2010 arbeitsfähig gewesen sei. Zudem habe der Kläger zum behaupteten Krankheitsverlauf widersprüchliche Angaben gemacht. So habe er einmal mitgeteilt, dass die rechte Schulter und das rechte Knie betroffen seien, während nach den Angaben von C das linke Knie und die linke Schulter behandelt worden seien. Während der Kläger einerseits vortrage, die Schmerzen in der linken Schulter hätten sich verschlimmert, behaupte er andererseits, dass C ein Hämatom an der linken Beckenschaufel und am Gesäß festgestellt habe. Während der Kläger am 20. Oktober 2010 über Schmerzen am Hals und Schulterbereich geklagt und mitgeteilt habe, Krankengymnastik verordnet bekommen zu haben, habe er am 27. Oktober 2010 mitgeteilt, er würde Krankengymnastik und Massagen für seinen Halswirbel bekommen. Dass und aus welchen Gründen am 28. Oktober 2010 eine die Arbeitsunfähigkeit begründende Erkrankung des Klägers vorgelegen habe, sei nicht dargelegt. Soweit der Kläger angegeben habe, Schmerzen gehabt zu haben, genüge dieser Vortrag nicht, weil nicht jeder Schmerz zur Arbeitsunfähigkeit führe. F sei am 11. November 2010 zu keinen behandlungsbedürftigen Befunden gekommen. Die Behauptungen des Klägers zur Wegeunfähigkeit seien nicht nachvollziehbar. Es sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Kläger nicht dazu in der Lage gewesen sei, den Betriebshof der Beklagten auf dieselbe Art und Weise zu erreichen wie die genannten Ärzte oder die Physiotherapeuten. Da der Kläger nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie keine weitere psychische Behandlung benötigt habe, sei nicht nachvollziehbar, dass wegen seines psychischen Zustandes eine Wegeunfähigkeit bestanden haben soll. Zudem sei nicht erklärlich, dass der Kläger am 03. November 2010 selbst gefahren sei, wenn er sich nicht für fahrtüchtig gehalten habe.
Wegen des weiteren Parteivorbringens im Berufungsrechtzug wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen vom 19. Juli 2011 (Bl. 168 ff d.A.) vom 31. August 2011 (Bl. 274-318 d.A.) vom 31.August 2011 (Bl. 319 d.A.) vom 10. Oktober 2011 (Bl. 323 f d.A.) vom 10.November 2011 (Bl. 369-411 d.A.) und vom 14. März 2012 (Bl. 429-441 d.A.) sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20. März 2012 (Bl. 442 f d.A.) Bezug genommen.