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BAG Urteil vom 22.02.2023 - 10 AZR 332/20

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Tarifliche Zuschläge für Nachtarbeit. unterschiedliche Höhe bei regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit. Gleichheitssatz. Sachgrund

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Leitsatz (amtlich)

Eine tarifvertragliche Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit höhere Zuschläge vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, verstößt dann nicht gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn neben dem Gesundheitsschutz weitere, aus dem Tarifvertrag erkennbare Zwecke verfolgt werden. Ein solcher Zweck kann in dem Ausgleich der zusätzlichen Belastungen aufgrund schlechterer Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit liegen.

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Orientierungssatz

1. Setzen Tarifvertragsparteien Normen, so üben sie keine delegierte Staatsgewalt aus, sondern nehmen privatautonom ihre Grundrechte aus Art. 9 Abs. 3 GG wahr. Ihnen kommt dabei ein weiter Gestaltungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielraum sowie eine Einschätzungsprärogative zu. Allerdings bildet der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie (Rn. 18 ff.).

2. Dies gilt grundsätzlich auch für Regelungen in einem Tarifvertrag, die die durch Nachtarbeit entstehenden Belastungen ausgleichen sollen. Solche tariflichen Ausgleichsregelungen vermögen allerdings den gesetzlichen Anspruch nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur dann zu verdrängen, wenn sie dem Zweck der Norm genügen und die gesundheitlichen Belastungen, die durch Nachtarbeit entstehen, hinreichend kompensieren. Bei der näheren Ausgestaltung angemessener Kompensationsregelungen sind die Tarifvertragsparteien hingegen freier als der unmittelbar an § 6 Abs. 5 ArbZG gebundene Arbeitgeber (Rn. 22 ff.).

3. Ob die Belastungen der Nachtarbeit durch die Regelungen in einem Tarifvertrag hinreichend kompensiert werden und der gesetzliche Ausgleichsanspruch nach § 6 Abs. 5 ArbZG somit verdrängt wird, ist nicht im Weg einer Gesamtbetrachtung des persönlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags zu prüfen, sondern anhand der jeweils betroffenen Arbeitnehmergruppe sowie der konkreten Arbeitssituation. Dabei kommt es nicht darauf an, ob andere Arbeitnehmer einen höheren Ausgleich bekommen (Rn. 29 ff.).

4. Erhalten Arbeitnehmer, die regelmäßige Nachtarbeit leisten, und Arbeitnehmer, die unregelmäßige Nachtarbeit versehen, dafür unterschiedlich hohe Zuschläge, sind beide Arbeitnehmergruppen miteinander vergleichbar und werden ungleich behandelt. Eine solche Ungleichbehandlung verstößt aber dann nicht gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, wenn hierfür ein aus dem Tarifvertrag erkennbarer sachlicher Grund besteht (Rn. 33 f., 41 ff.).

5. Zwar vermag der Aspekt des Gesundheitsschutzes den höheren Zuschlag für unre- gelmäßige Nachtarbeit nicht zu rechtfertigen (Rn. 45 ff.). Den Tarifvertragsparteien steht es aber im Rahmen der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Tarifautonomie frei, mit einem Nachtarbeitszuschlag neben dem Schutz der Gesundheit weitere Zwecke zu verfolgen (Rn. 57 f.). Dies gilt etwa für den Zweck, Belastungen für die Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, wegen der schlechteren Planbarkeit dieser Art der Arbeitseinsätze auszugleichen. Ein solcher Zweck muss sich allerdings – wie vorliegend – aus dem Inhalt der tariflichen Bestimmungen ergeben (Rn. 53 ff.).

6. Der Zweck des Ausgleichs der schlechteren Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit hält sich im Rahmen des Gestaltungs- und Beurteilungsspielraums der Tarifvertragsparteien und stellt damit einen sachlich vertretbaren Grund dar, der die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag (Rn. 57 ff.).

7. Eine Angemessenheitsprüfung im Hinblick auf die Höhe der Differenz der Zuschläge erfolgt nicht. Es liegt im Ermessen der Tarifvertragsparteien, wie sie den Aspekt der schlechteren Planbarkeit für die Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, finanziell bewerten und ausgleichen (Rn. 63).

8. Ein Anspruch auf den höheren Zuschlag kann sich nicht aus Unionsrecht, insbesondere Art. 20 und 21 GRC, ergeben. Mit einer tarifvertraglichen Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit höhere Zuschläge vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, wird kein Unionsrecht durchgeführt (Rn. 64).

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Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; GRC Art. 51 Abs. 1; ArbZG § 6 Abs. 5; MTV Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin/Brandenburg/Mecklenburg-Vorpommern/Sachsen/Sachsen-Anhalt/Thüringen § 4 Fassung: 1998-03-24, § 7 Nr. 1 Fassung: 1998-03-24, Nr. 3 Fassung: 1998-03-24

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Verfahrensgang

LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 12.06.2020; Aktenzeichen 8 Sa 2030/19)

ArbG Berlin (Urteil vom 16.10.2019; Aktenzeichen 39 Ca 9996/19)

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Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Juni 2020 - 8 Sa 2030/19 - teilweise aufgehoben, soweit es der Klage stattgegeben hat.

2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 16. Oktober 2019 - 39 Ca 9996/19 - wird insgesamt zurückgewiesen.

3. Die Klägerin hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

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Tatbestand

Rz. 1

Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge.

Rz. 2

Die Klägerin leistete im streitgegenständlichen Zeitraum Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit bei der Beklagten, einem Unternehmen der Getränkeindustrie. Sie ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Die Beklagte ist durch einen mit der NGG geschlossenen Unternehmenstarifvertrag an den Manteltarifvertrag zwischen dem Verband der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost e. V. und der NGG vom 24. März 1998 (MTV) gebunden.

Rz. 3

Der MTV enthält unter anderem folgende Regelungen:

„§ 4   

Regelung der Arbeitszeit

B. Mehrarbeit

1.    

Mehrarbeit ist die über die jeweilige tarifliche bzw. betriebliche wöchentliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit, soweit es sich nicht um einen zulässigen Ausgleich für ausgefallene Arbeitszeit im Rahmen einer ungleichmäßig verteilten tariflichen Arbeitszeit handelt.

2.    

Für die über die jeweilige regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit hinausgehenden Arbeitsstunden wird ab der 41. Stunde ein Zuschlag je Stunde von 25 % gezahlt. Dieser Zuschlag wird dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. In besonderen Ausnahmefällen kann er auch ausgezahlt werden.

…       

C. Nacht-, Sonntags- und Schichtarbeit

1.    

Nachtarbeit ist die Zeit zwischen 22:00 Uhr und 06:00 Uhr.

…       

3.    

Bei Schichtarbeit kann eine Verschiebung der Zeiträume der Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit entsprechend den Schichtzeiten festgelegt werden.

4.    

Schichtarbeit liegt dann vor, wenn der Arbeitstag in verschiedene Abschnitte - Schichten - eingeteilt wird.

5.    

Zur Abgeltung der auftretenden Erschwernisse und Belastungen bei ständiger Nachtschicht oder im 3-Schichten-Wechsel wird ein Ausgleich durch Freizeit gewährt.

6.    

Arbeitnehmer/innen, die in ständiger Nachtschicht oder im 3-Schichten-Wechsel arbeiten, erhalten für je 20 geleistete Nachschichten einen Tag Schichtfreizeit.

7.    

Die Vergütung dieser Schichtfreizeit erfolgt mit dem entsprechenden Anteil des Monatsentgeltes.

8.    

In Betrieben, in denen im 3-Schicht-System gearbeitet wird, muss den Arbeitnehmer/innen, die aus betrieblichen Gründen wegen ununterbrochenen Fortgangs der Arbeit ihren Arbeitsplatz nicht verlassen können, eine bezahlte Essenspause von 30 Minuten innerhalb der Arbeitszeit gewährt werden. Die bezahlte Essenspause ist nicht mit der wöchentlichen bzw. täglichen Arbeitszeit zu verrechnen.

…       

§ 7     

Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

1.    

Für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit werden folgende Zuschläge gezahlt:

ab 1998

ab 1999

Mehrarbeit ab der 41. Stunde/Woche

25 %   

Mehrarbeit in der Nacht

ab der 41. Stunde/Woche

50 %   

regelmäßige Nachtarbeit

17,5 %

20 %   

unregelmäßige Nachtarbeit

40 %   

50 %   

Sonntagsarbeit

67,5 %

Feiertagsarbeit

150 % 

(soweit sie auf einen Werktag fällt)

Feiertagsarbeit

175 % 

(soweit sie auf einen Sonntag fällt)

2.    

Bei Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere Zuschlag zu zahlen.

3.    

Die Zuschläge werden vom tariflichen Gesamtentgelt berechnet.“

Rz. 4

Die Klägerin verrichtete von Dezember 2018 bis Juni 2019 regelmäßige Nachtarbeit im tarifvertraglichen Sinn, für die sie - soweit für die Revision von Interesse - einen Zuschlag iHv. 20 % erhielt.

Rz. 5

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin - nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung - für die geleistete Nachtarbeit die Zahlung weiterer Nachtarbeitszuschläge in Höhe der Differenz zwischen dem gezahlten tariflichen Zuschlag für regelmäßige Nachtarbeit iHv. 20 % und dem tariflichen Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit iHv. 50 % des tariflichen Gesamtentgelts.

Rz. 6

Sie hat die Auffassung vertreten, der Anspruch ergebe sich aus § 7 Nr. 1 MTV iVm. dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der tariflichen Regelung erhielten Arbeitnehmer für regelmäßige Nachtarbeit - trotz Vergleichbarkeit beider Arbeitnehmergruppen - Zuschläge von nur 20 %, für unregelmäßige Nachtarbeit dagegen Zuschläge von 50 %, ohne dass für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund vorliege. Der vorrangig zu beachtende Gesundheitsschutz rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht; andere Aspekte als dieser könnten bei Nachtarbeit höhere Zuschläge nicht rechtfertigen. Zudem sei die Teilhabe am sozialen Leben auch bei regelmäßiger Nachtarbeit deutlich erschwert. Planbarkeit könne sowohl bei regel- als auch bei unregelmäßiger Nachtarbeit vorliegen oder fehlen. Ein Zuschlag von nur 20 % für regelmäßige Nachtarbeit sei nicht vom Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckt, er verteuere die Nachtarbeit nicht ausreichend. Außerdem sei dieser Gestaltungsspielraum mit Blick darauf eingeschränkt, dass tarifvertragliche Regelungen für Nachtarbeitszuschläge der Durchführung von Unionsrecht iSv. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) dienten und insoweit an Art. 20 und Art. 31 Abs. 1 GRC zu messen seien.

Rz. 7

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen,

1.    

für den Monat Dezember 2018 192,29 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. Januar 2019,

2.    

für den Monat Januar 2019 356,36 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. Februar 2019,

3.    

für den Monat Februar 2019 205,07 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. März 2019,

4.    

für den Monat März 2019 1,77 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. April 2019,

5.    

für den Monat April 2019 188,60 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. Mai 2019,

6.    

für den Monat Mai 2019 1,04 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. Juni 2019,

7.    

für den Monat Juni 2019 397,28 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. Juli 2019

an sie zu zahlen.

Rz. 8

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit verstießen nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Gruppen der Arbeitnehmer, die regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit verrichteten, seien schon nicht vergleichbar. Zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit bestehe zudem ein Regel-Ausnahmeverhältnis, weil regelmäßige Nachtarbeit sehr viel häufiger anfalle als unregelmäßige Nachtarbeit. Die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge überschreite auch nicht den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Die Zuschlagsdifferenz verringere sich außerdem durch die Regelungen zu den Schichtfreizeiten, zur bezahlten Essenspause und den Umstand, dass der Zuschlag von 50 % für unregelmäßige Nachtarbeit typischerweise Mehrarbeit betreffe und daher den Mehrarbeitszuschlag enthalte. Er solle auch nicht nur die Erschwernis für die Arbeit in der Nacht ausgleichen, sondern kompensieren, dass die betroffenen Arbeitnehmer die Möglichkeit verlören, über ihre Freizeit zu disponieren. Arbeitgeber sollten von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abgehalten werden. Außerdem sei die Teilhabe am sozialen Leben, etwa die Organisation der Kinderbetreuung, bei unregelmäßiger Nachtarbeit wesentlich schwerer zu organisieren. Schließlich sei eine „Anpassung nach oben“ abzulehnen.

Rz. 9

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil auf die Berufung der Klägerin abgeändert und der Klage teilweise stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Rz. 10

Der Senat hat mit Beschluss vom 9. Dezember 2020 (- 10 AZR 332/20 (A) - BAGE 173, 165) das Revisionsverfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um eine Vorabentscheidung gebeten, ob mit einer tarifvertraglichen Regelung die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG iSv. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC durchgeführt wird, wenn die tarifvertragliche Regelung für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Ausgleich vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit. Der EuGH hat auf diese Frage mit Urteil vom 7. Juli 2022 geantwortet (- C-257/21 und C-258/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]).