BAG Urteil vom 17.07.2003 - 8 AZR 486/02
Entscheidungsstichwort (Thema)
Schadensersatz wegen Minderungen des Arbeitslosengeldes nach fristwidriger Kündigung. Schadensersatz. Ausschlußfristen
Orientierungssatz
- Eine rechtswidrige Kündigung kann als Pflichtverletzung einen Schadensersatzanspruch begründen, wenn ihr Ausspruch verschuldet ist. Letzteres ist nicht der Fall, wenn die Kündigung auf einem vertretbaren Rechtsstandpunkt des Arbeitgebers beruht. Ist die Rechtslage nicht eindeutig, handelt der kündigende Arbeitgeber solange nicht fahrlässig, wie er auf die Wirksamkeit der Kündigung vertrauen durfte. Entscheidend ist, ob er mit vertretbaren Grün-den zu der Annahme gelangen durfte, die Kündigung werde sich als rechtsbeständig erwei-sen.
- Diese Grundsätze gelten auch, wenn eine ordentliche Kündigung nicht mit der korrekten Frist ausgesprochen worden ist und ein Schaden gerade hierdurch entstanden ist.
- Verursacht ein Arbeitgeber schuldhaft wegen des Ausspruchs einer rechtswidrigen Kündi-gung die Beendigung des sozialrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses und die Inan-spruchnahme von Arbeitslosengeld aufgrund Gleichwohlgewährung und kommt es vor Ab-lauf der sozialrechtlichen Rahmenfrist zum Eintritt einer erneuten Arbeitslosigkeit und Minderungen des Arbeitslosengeldes, weil Bemessungszeiträume und das Lebensalter des Arbeit-nehmers vor der Gleichwohlgewährung zugrunde gelegt werden, ist der Arbeitgeber insoweit nach den Grundsätzen der positiven Forderungsverletzung (jetzt § 280 BGB nF) schadens-ersatzpflichtig.
- Sieht eine Ausschlußklausel vor, daß Ansprüche innerhalb einer bestimmten Frist nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden müssen, so ist der Gläubiger grundsätzlich ver-pflichtet, bei der Geltendmachung auch die ungefähre Höhe seiner Forderung zu nennen.
Normenkette
Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378) Art. 2 § 14; Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378) Art. 1 § 1; Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378) Art. 1 § 4; AFG i.d.F. vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2325) § 100 Abs. 1; AFG i.d.F. vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2325) § 101 Abs. 1; AFG i.d.F. vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2325) § 104 Abs. 3; AFG i.d.F. vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2325) § 106; AFG i.d.F. vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2325) § 112; AFG i.d.F. vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2325) § 111; AFG i.d.F. vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2325) § 117 Abs. 4; SGB III §§ 117, 118 Abs. 1 Nr. 1, § 143 Abs. 3; TV für Angestellte der Deutschen Reichsbahn vom 1. Juli 1991 §§ 28, 37
Verfahrensgang
LAG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 13.06.2002; Aktenzeichen 9 Sa 763/01) |
ArbG Stendal (Urteil vom 15.08.2001; Aktenzeichen 7 Ca 903/00) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 13. Juni 2002 – 9 Sa 763/01 – wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten um den Ersatz entgangener Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit nach einer – zurückgenommenen – Kündigung und vergleichsweisen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu einem späteren Zeitpunkt.
Die am 21. Dezember 1938 geborene Klägerin war seit dem 15. März 1974 bei der Deutschen Reichsbahn – Rechtsvorgängerin des Beklagten – beschäftigt, und zwar zuletzt als technisch-ökonomische Fachkraft mit 50 % der regelmäßigen Arbeitszeit. Auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit der Deutschen Reichsbahn fand ua. der Tarifvertrag für die Angestellten der Deutschen Reichsbahn (AnTV-DR), gültig seit 1. Juli 1991, Anwendung. Dieser Tarifvertrag enthält ua. folgende Regelungen:
“§ 28
Ordentliche Kündigung
…
(2)a) Im übrigen beträgt die Kündigungsfrist eines auf unbestimmte Zeit eingestellten Angestellten bei einer Eisenbahndienstzeit (Beschäftigungszeit) … von
…
mehr als 12 Jahren 6 Monate
zum Schluß eines Kalendervierteljahres.
§ 37
Ausschlußfrist
-
Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlußfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit vom Angestellten oder von der Deutschen Reichsbahn schriftlich geltend gemacht werden, soweit tarifvertraglich nichts anderes bestimmt ist.
Für denselben Sachverhalt reicht die einmalige Geltendmachung des Anspruchs aus, um die Ausschlußfrist auch für später fällig werdende Leistungen unwirksam zu machen.
- Später, aber innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist geltend gemachte Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis werden nur dann berücksichtigt, wenn sie für den Beanstandenden nachweisbar erst zu dem späteren Zeitpunkt erkennbar wurden und ihre Berichtigung noch nachgeprüft werden kann.”
Mit Schreiben vom 30. März 1992 sprach die Deutsche Reichsbahn eine ordentliche Änderungskündigung zum 30. Juni 1992 aus, die mit dem Änderungsangebot verbunden war, ab 1. Juli 1992 als Arbeiterin mit Reinigungsaufgaben tätig zu werden. Die Änderungskündigung ging der Klägerin am 14. Mai 1992 zu. Nachdem die Klägerin hiergegen Kündigungsschutzklage erhoben hatte, ohne das Änderungsangebot unter Vorbehalt anzunehmen, erklärte die Deutsche Reichsbahn mit Schriftsatz vom 29. September 1992, die Änderungskündigung sei zurückgenommen. Unter dem gleichen Datum sprach die Deutsche Reichsbahn der Klägerin eine zweite Änderungskündigung aus; auch hiergegen erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage. Die Zahlung von Arbeitsentgelt stellte die Deutsche Reichsbahn ab dem 1. Juli 1992 ein. Nach Verbindung der beiden Verfahren schlossen die Deutsche Reichsbahn und die Klägerin am 16. Juni 1993 einen gerichtlichen Vergleich, demgemäß das Arbeitsverhältnis durch die zweite Kündigung aus betriebsbedingten Gründen mit Ablauf des 31. März 1993 endete. Die Deutsche Reichsbahn rechnete das Arbeitsverhältnis daraufhin ordnungsgemäß ab und zahlte das Arbeitsentgelt für die Zeit vom 1. Juli 1992 bis 31. März 1993 unter Berücksichtigung der Ansprüche an die Klägerin aus, die auf die Bundesanstalt für Arbeit übergegangen waren.
Mit Bescheid vom August 1992 bewilligte das Arbeitsamt der Klägerin ab 1. Juli 1992 für 676 Anspruchstage Arbeitslosengeld und legte der Bemessung die Arbeitsvergütung im Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni 1992 zugrunde. Am 22. September 1992 teilte die Deutsche Reichsbahn dem Arbeitsamt mit, das Arbeitsverhältnis werde bis zum 31. März 1993 weitergeführt. Die Klägerin, die vom 17. September 1992 bis zum 31. März 1993 arbeitsunfähig erkrankt war, stellte am 23. März 1993 erneut einen Antrag auf Arbeitslosengeld, welches ihr mit Bescheid vom Juni 1993 bewilligt wurde. Das Arbeitslosengeld war erneut nach der Arbeitsvergütung vom 1. April bis 30. Juni 1992 bemessen worden und erstreckte sich wiederum auf den Anspruchszeitraum von 676 Tagen. Mit Schreiben vom 27. Januar 1994, welches der Klägerin am 22. Februar 1994 zuging, erläuterte die Bundesanstalt für Arbeit die Rahmenfrist sowie die Bemessungsgrundlagen und den Bezugszeitraum. Gegen die nach Auffassung der Klägerin zu kurz bemessene Dauer des Arbeitslosengeldbezuges gerichteten Widersprüche blieben gemäß den Bescheiden vom 18. Februar 1994 und 11. April 1994 ebenso erfolglos wie ein vor dem Sozialgericht geführtes Verfahren. Mit Schreiben vom 16. Juni 1994 teilte das Sozialgericht der Klägerin mit, die Berechnung des Arbeitslosengeldanspruchs dürfte rechtlich nicht zu beanstanden sein, so daß Klage und Antrag auf Prozeßkostenhilfe wohl keine Aussicht auf Erfolg hätten.
Mit Schreiben vom 4. Januar 1995 machte die Klägerin gegenüber dem beklagten Bundeseisenbahnvermögen Schadensersatz dem Grunde nach geltend; am 13. Januar 1997 hat sie Klage erhoben. Das Bundeseisenbahnvermögen hat sich auf Verjährung berufen. Seit dem 21. Dezember 1998 ist die Klägerin Rentnerin.
Sie hat behauptet, ihr sei daraus, daß das Arbeitsamt für die Bewilligung des Arbeitslosengeldes ab 1. April 1993 ihr Arbeitsentgelt von April bis Juni 1992 und für die Dauer des Anspruchs nicht ihr Lebensalter am 1. April 1993, sondern das vom 1. Juli 1992 zugrunde gelegt habe, ein Schaden entstanden. Wäre von ihrem Lebensalter am 1. April 1993 ausgegangen worden, hätte sie Anspruch auf Arbeitslosengeld für 832 Tage gehabt; dieses wäre ferner nach der Arbeitsvergütung aus der Zeit vom 1. Januar bis 31. März 1993 oder aus den drei Monaten bis zur Erkrankung errechnet worden und daher höher gewesen. Diesen Schaden habe der Beklagte als Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn zu vertreten, weil letztere die Klägerin mit Ausspruch der ersten Änderungskündigung, die sie im Oktober 1992 wegen erkennbarer Unwirksamkeit zurückgenommen habe, gezwungen habe, sich ab 1. Juli 1992 arbeitslos zu melden. Bei Wahrung der Kündigungsfrist hätte die erste, später zurückgenommene Kündigung erst zum 31. Dezember 1992 erfolgen dürfen, so daß sie sich erst ab 1. Januar 1993 hätte arbeitslos melden müssen. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie auf Grund ihres Lebensalters von dann 54 Jahren Anspruch auf Arbeitslosengeld für 832 Tage gehabt. Der Anspruch habe sich auf 68 % von insgesamt 52.556,98 DM belaufen. Abzüglich der gezahlten 20.632,80 DM sei ihr ein Schaden von 7.723,54 Euro entstanden. Sie habe erstmals mit Schreiben des Arbeitsamtes Stendal vom 18. Februar 1994 Kenntnis davon erlangt, daß und warum das Arbeitsamt Höhe und Dauer des Arbeitslosengeldbezuges niedriger bemessen habe. Ein Mitverschulden ihrerseits sei nicht gegeben.
Nachdem die Klägerin erstinstanzlich beantragt hatte, den Beklagten zu verurteilen, an sie 52.556,98 DM brutto abzüglich 20.632,80 DM netto zu zahlen, hat sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nur noch beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 7.723,54 Euro brutto zu zahlen.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er ist den Darlegungen der Klägerin mit der Auffassung entgegengetreten, nach der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gelte für die Bemessung des Arbeitslosengeldes nicht mehr die reine Zuflußtheorie, sondern die sogenannte kombinierte Anspruchs- und Zuflußtheorie. Er hat die Auffassung vertreten, durch die falsche Berechnung der Kündigungsfrist sei die erste Kündigung nicht unwirksam geworden; die Deutsche Reichsbahn habe nicht davon ausgehen müssen, daß das Kündigungsschreiben, das am 30. März 1992 mit der Hauspost verschickt worden sei, erst am 14. Mai 1992 zugehen würde. Auch sei die Klägerin nach zehn Jahren mit dem Vortrag hinsichtlich der Unwirksamkeit dieser Kündigung ausgeschlossen. Im übrigen sei ein evtl. Anspruch der Klägerin verjährt.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Zahlungsantrag in der ursprünglichen Höhe von 52.556,98 DM brutto abzüglich 20.635,80 DM netto weiter.