BFH Urteil vom 17.11.2010 - I R 76/09 (veröffentlicht am 02.03.2011)
Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtrückkehrtage im Sinne der Grenzgängerregelung im DBA-Schweiz 1971/1992; Abzug ausländischer Steuer nach § 34c Abs. 3 EStG 1997 i.d.F. des StBereinG 1999
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Anwendung der Grenzgängerregelung in Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992 zählen Dienstreisetage mit Übernachtungen im Ansässigkeitsstaat zu den "Nichtrückkehrtagen" (Bestätigung des Senatsurteils vom 11. November 2009 I R 15/09, BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602).
2. Eintägige Dienstreisen in Drittstaaten führen nicht zu Nichtrückkehrtagen (Bestätigung des Senatsurteils vom 11. November 2009 I R 15/09, BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602).
3. Der Tag, an dem der Arbeitnehmer von einer mehrtägigen Dienstreise in Drittstaaten an seinen Wohnsitz zurückkehrt, zählt nicht als Nichtrückkehrtag. Ein Nichtrückkehrtag liegt dagegen vor, wenn der Arbeitnehmer an diesem Tag mit der Rückreise beginnt, aber erst am Folgetag an seinen Wohnsitz zurückkehren kann (Bestätigung des Senatsurteils vom 11. November 2009 I R 15/09, BFHE 227, 419, BStBl II 2010, 602).
4. Ein Tag, an dem der Arbeitnehmer aufgrund einer nichtselbständigen Tätigkeit für einen nicht in der Schweiz ansässigen Arbeitgeber nicht an seinen Wohnsitz zurückkehrt, ist kein Nichtrückkehrtag. Jedoch kann eine Tätigkeit auch dann "für einen in der Schweiz ansässigen Arbeitgeber" ausgeübt werden, wenn jener Arbeitgeber den Arbeitnehmer zu einer Tochtergesellschaft entsendet und der Arbeitnehmer dort die Interessen des Schweizer Arbeitgebers wahrnehmen soll.
5. Erzielt ein Arbeitnehmer im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses mit einem Schweizer Arbeitgeber Einkünfte aus einer in Deutschland oder in einem Drittstaat ausgeübten Tätigkeit, so "stammen" diese Einkünfte nicht i.S. des § 34c Abs. 6 Satz 4 EStG 1997 i.d.F. des StBereinG 1999 aus der Schweiz. Eine auf diese Einkünfte erhobene Schweizer Steuer kann deshalb unter den Voraussetzungen des § 34c Abs. 3 EStG 1997 i.d.F. des StBereinG 1999 bei der Ermittlung der in Deutschland zu besteuernden Einkünfte des Arbeitnehmers abgezogen werden.
Normenkette
DBA CHE 1971 Art. 15 Abs. 1, Art. 15a, 24 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d; EStG 1997 § 34c Abs. 3, 6 Sätze 1, 4
Verfahrensgang
FG Baden-Württemberg (Urteil vom 12.03.2009; Aktenzeichen 3 K 4105/08; EFG 2010, 778) |
Tatbestand
Rz. 1
I. Die Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die für das Streitjahr (2001) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger wohnte im Streitjahr im Inland und war bei der Schweizer C-AG nichtselbständig tätig. Zuvor war er bei der ebenfalls in der Schweiz ansässigen X-AG beschäftigt gewesen, aus der die C-AG durch Umwandlungsvorgänge entstanden ist; die X-AG hatte ihm eine ―nicht im Schweizerischen Handelsregister eintragbare― Handlungsvollmacht erteilt.
Rz. 2
Der Kläger arbeitete vom 30. Oktober bis zum 15. Dezember 2000 sowie im Streitjahr vom 7. Januar bis zum 6. März, vom 17. bis zum 24. März und vom 3. bis zum 7. Juli bei einer Tochtergesellschaft der C-AG, der CS-C, in den USA. Zu diesem Zweck wurde er vom 30. Oktober bis zum 15. Dezember 2000 und vom 7. Januar bis zum 26. März des Streitjahres zur CS-C "versetzt". Er blieb während dieser Zeit bei der C-AG "unter Vertrag"; eine Vereinbarung über seine Tätigkeit in den USA wurde nicht abgeschlossen. Die C-AG nahm weiterhin die Lohnzahlung sowie Abzüge für Sozialversicherung, Pensionskasse und Quellensteuer vor. Die Aufgabe des Klägers bei der CS-C bestand vor allem darin, sich vor Ort einen eigenen Eindruck von den dortigen Zuständen zu verschaffen, da er in der Folgezeit bei der C-AG u.a. für die CS-C zuständig sein sollte. Ferner sollte er eine stärkere Einbindung der CS-C in die Entscheidungsprozesse bei der C-AG vorbereiten. Während seines Aufenthaltes in den USA betreute der Kläger zugleich alle Projekte weiter, an denen er zuvor in der Schweiz gearbeitet hatte. In der Zeit vom 15. Dezember 2000 bis zum 7. Januar 2001 arbeitete der Kläger bei der C-AG in der Schweiz.
Rz. 3
Während seines Aufenthaltes in den USA war dem Kläger von der CS-C ein Appartement unentgeltlich zur Verfügung gestellt worden. Dem Kläger wurde für die Zeit in den USA u.a. ein Kaufkraftausgleich gewährt. Eine "Verrechnung" des Lohnaufwands für den Kläger zwischen der C-AG und der CS-C fand nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) nicht statt.
Rz. 4
In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr gingen die Kläger davon aus, dass der Kläger mit seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit für die C-AG nicht als Grenzgänger i.S. des Art. 15a des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und Vermögen vom 11. August 1971 i.d.F. des Protokolls vom 21. Dezember 1992 (DBA-Schweiz 1971/1992) der Besteuerung im Inland unterliege. Das Besteuerungsrecht stehe ausschließlich der Schweiz zu, weil der Kläger leitender Angestellter i.S. des Art. 15 Abs. 4 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/1992 sei. Dazu reichten die Kläger eine Bescheinigung der C-AG darüber ein, dass der Kläger an mehr als 60 Arbeitstagen aufgrund seiner Arbeitsausübung nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt war. Die Bescheinigung trägt den Sichtvermerk der für die C-AG zuständigen Schweizer Steuerbehörde.
Rz. 5
Im Verlauf des erstinstanzlichen Klageverfahrens wurden dem FG Beweismittel vorgelegt, nach denen der Kläger im Streitjahr an folgenden Tagen auf Grund seiner Arbeitsausübung nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist (Nichtrückkehrtage ―NRT―):
6
Ziel |
Datum |
Land |
NRT |
steuerpflichtigeArbeitstage:: |
CS-C |
7. Januar bis 6. März |
USA |
57 |
42 |
CS-C |
17. bis 24. März |
USA |
7 |
5 |
Japan |
14. bis 17. Mai |
Japan |
2 |
3 |
Bombay |
17. bis 20. Mai |
Indien |
2 |
1 |
CS-C |
3. bis 7. Juli |
USA |
3 |
4 |
Potsdam |
10. bis 12. Oktober |
BRD |
3 |
|
Hohenstein |
23. bis 25. Oktober |
BRD |
2 + 1 |
|
Detroit |
6. bis 10. November |
USA |
3 |
4 |
Bad Wörishofen |
4. bis 5. Dezember |
BRD |
2 |
|
Summen |
74 |
67 |
Rz. 7
In dieser Aufstellung sind folgende Wochenend- und Feiertage angesetzt: 7., 13., 14., 20., 21., 27. und 28. Januar, 2., 3., 10., 11., 17., 18., 24. und 25. Februar, 2., 3., 17., 18. und 24. März, 19. und 20. Mai, 7. Juli und 10. November.
Rz. 8
Die C-AG behielt vom Gehalt des Klägers Quellensteuer in Höhe von 12.171 CHF (= 4,5 % von 270.472 CHF) ein. Die Eidgenössische Steuerverwaltung (EStV) unterwarf den gesamten Bruttolohn des Klägers der Quellensteuer. Inwieweit die Quellensteuer auf kantonale Steuern (Kirchensteuer, Feuerwehrersatzabgabe) und auf die direkte Bundessteuer entfällt, hat das FG nicht festgestellt.
Rz. 9
Der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) erließ für das Streitjahr einen Einkommensteuerbescheid, in dem er die gesamten Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit als steuerpflichtig erfasste. Der Höhe nach ermittelte das FA die Einnahmen des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit mit 347.392 DM; die Berechnung dieses Betrags greifen die Kläger nicht an. Die in der Schweiz zu Lasten des Klägers gezahlte Quellensteuer hat das FA weder auf die Einkommensteuer angerechnet noch zum Abzug zugelassen; die von der C-AG einbehaltene und an die EStV abgeführte Quellensteuer wurde jedoch in der dem Einkommensteuerbescheid beigefügten Anrechnungsverfügung mit 15.579 DM (= 12.171,24 CHF x 1,28 DM/CHF = durchschnittlicher Umrechnungskurs für das Streitjahr) berücksichtigt. Der Einspruch der Kläger blieb erfolglos.
Rz. 10
Die daraufhin erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Das FG entschied, dass das FA die Einkünfte des Klägers zu Recht der Besteuerung unterworfen habe, die in der Schweiz erhobene Quellensteuer aber gemäß § 34c Abs. 3 der für das Streitjahr maßgebenden Fassung des Gesetzes zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften (Steuerbereinigungsgesetz 1999) vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2601, BStBl I 2000, 13) ―EStG 1997 n.F.― bei der Ermittlung der Einkünfte des Klägers abzuziehen sei, und änderte den angefochtenen Bescheid entsprechend ab (FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 12. März 2009 3 K 4105/08). Das FG führte u.a. aus, der Kläger sei Grenzgänger gewesen, da er nicht an mehr als 60 Arbeitstagen aus beruflichen Gründen außerhalb seines Wohnsitzes übernachtet habe. Die Zahl der Nichtrückkehrtage bezifferte das FG mit (höchstens) 58; dabei sah es u.a. diejenigen (sieben) Tage, an denen der Kläger sich auf Dienstreisen in Deutschland befunden hatte und deshalb nicht nach Hause zurückgekehrt war, nicht als "Nichtrückkehrtage" an. Die Zahl von 58 Nichtrückkehrtagen beinhaltet alle Arbeitstage, an denen sich der Kläger vom Dienstreiseort aus auf die Rückreise begeben, seinen Wohnsitz aber nicht mehr erreicht hat. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2010, 778 abgedruckt.
Rz. 11
Das Urteil wurde den Bevollmächtigten der Kläger am 10. August 2009 und dem FA am 11. August 2009 zugestellt. Daraufhin haben die Kläger am 7. September 2009 und das FA am 18. September 2009 die vom FG zugelassene Revision eingelegt.
Rz. 12
Die Kläger rügen eine Verletzung materiellen Rechts. Sie haben zunächst beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und den angefochtenen Bescheid dahin zu ändern, dass die Einkommensteuer auf 0 € festgesetzt wird. Im weiteren Verlauf haben sie ihren Antrag eingeschränkt; sie beantragen nunmehr eine Herabsetzung der Einkommensteuer auf 28.833 DM.
Rz. 13
Das FA rügt ebenfalls eine Verletzung materiellen Rechts. Es beantragt, die Revision der Kläger zurückzuweisen.
Rz. 14
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Revision des FA zurückzuweisen.
Rz. 15
Das Finanzministerium Baden-Württemberg (FinMin) ist dem Revisionsverfahren gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beigetreten. Es trägt vor, der Kläger habe während seines Aufenthalts in den USA ein Beschäftigungsverhältnis mit der CS-C begründet. In jener Zeit sei die C-AG nicht seine wirtschaftliche Arbeitgeberin gewesen. Daher sei die für Art. 15a DBA-Schweiz 1971/1992 maßgebliche 60-Tage-Grenze um fünf Tage je Monat (einen Tag je voller Woche) zu kürzen und verringere sich die Zahl der Nichtrückkehrtage um 20 Tage, so dass der Kläger Grenzgänger gewesen sei.
Rz. 16
Ferner führt das FinMin aus, dass die in der Schweiz gezahlte Steuer nicht nach § 34c Abs. 3 EStG 1997 abgezogen werden könne. Das gelte unabhängig davon, ob der Kläger Grenzgänger gewesen sei oder nicht.
Rz. 17
Einen Antrag hat das FinMin nicht gestellt.