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BSG Urteil vom 23.02.1988 - 12 RK 43/87

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Leitsatz (redaktionell)

Der Arbeitgeber geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer ist berechtigt, seine Arbeitnehmer unter Darlegung der Voraussetzungen für das Entstehen der Versicherungs- und Beitragspflicht zu fragen, ob sie bei einem anderen Arbeitgeber in einem Umfang beschäftigt sind, der zusammen mit der bei ihm ausgeübten Beschäftigung Versicherungspflicht und Beitragspflicht begründet. Im übrigen kann er bei Zweifeln eine Entscheidung der Einzugsstelle beantragen. Fragen nach den Einzelheiten der anderen Beschäftigung (Arbeitsentgelt, Arbeitgeber) sind unzulässig.

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Orientierungssatz

Entstehen des Beitragsanspruches - Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers bei sittenwidriger Täuschung - Zur Beitragszahlungspflicht des Arbeitgebers:

1. Beitragsansprüche entstehen gemäß § 22 SGB 4 kraft Gesetzes, sobald ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört nicht, daß der Arbeitgeber über die Tatsachen informiert ist, die die Beitragspflicht begründen.

2. Dem Arbeitgeber stehen nach der Rechtsprechung des BAG Schadensersatzansprüche zu, soweit der Arbeitnehmer ihn sittenwidrig über das Vorliegen weiterer Beschäftigungen getäuscht hat (vgl BAG vom 3.4.1958 2 AZR 469/56 = AP Nr 1 zu §§ 394, 395 RVO; BAG 23.3.1983 5 AZR 582/80). Diese Voraussetzungen liegen zwar regelmäßig nicht vor, wenn der Arbeitnehmer es lediglich versäumt, den Arbeitgeber von sich aus zu informieren; denn das würde dem Grundgedanken der §§ 394, 395, 1397 RVO zuwiderlaufen. Jedoch können sie uU vorliegen, wenn der Arbeitnehmer auf eine klar, umfassend und unter Beachtung der dargelegten Grenzen gestellte zulässige Frage eine von ihm ausgeübte Nebenbeschäftigung oder Nebentätigkeit bewußt verschweigt.

3. Die Pflicht des Arbeitgebers zur Beitragszahlung entfällt nicht dadurch, daß der Arbeitnehmer bisher nichts von seinem Versicherungsschutz wußte und deshalb davon auch keinen Gebrauch machen konnte.

4. Daß ein Arbeitgeber bei der Nachzahlung von Beiträgen auch noch den Arbeitnehmeranteil der Beiträge zu tragen hat, selbst wenn ihn an der Verzögerung der Beitragszahlung kein Verschulden trifft, verstößt noch nicht gegen das Grundgesetz (vgl BSG vom 10.9.1987 12 RK 13/85 = USK 8790).

5. Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde nicht zur Entscheidung angenommen (vgl BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 21.4.1988 - 1 BvR 678/88).

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Normenkette

BDSG § 23; RVO § 396; SGB X § 67; SGB IV § 22; RVO § 393 Abs. 1; SGB IV § 8 Abs. 2; RVO § 1396 Abs. 1; SGB IV § 8 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 14 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; RVO § 165 Abs. 1 Nr. 1 Fassung 1924-12-15, § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

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Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 05.05.1987; Aktenzeichen L 5 Kr 5/87)

SG Schleswig (Entscheidung vom 02.12.1986; Aktenzeichen S 7 Kr 2/86)

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Nachgehend

BVerfG (Entscheidung vom 21.04.1989; Aktenzeichen 1 BvR 678/88)

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Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Arbeitgeber eines Mehrfachbeschäftigten für diesen auch dann Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten hat, wenn der Beschäftigte ihm eine zwischenzeitlich aufgenommene zweite Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber, durch die er versicherungspflichtig geworden ist, nicht mitgeteilt hat.

Die Kläger sind Rechtsanwälte und betreiben gemeinsam eine Praxis. Sie beschäftigen seit 1977 die Beigeladene zu 1) als Raumpflegerin Montag bis Freitag mit einer Arbeitszeit von täglich ein bis eineinhalb Stunden. Das monatliche Bruttoentgelt betrug 1979 235,31 DM, 1980 300,90 DM, 1981 302,99 DM, 1982 368,-- DM und in den Folgejahren 300,60 DM.

1984 ermittelte die Beklagte, daß die Beigeladene zu 1) seit dem 16. November 1979 außer bei den Klägern auch bei der Beigeladenen zu 2) als Raumpflegerin beschäftigt war. Sie erzielte aus dieser zweiten Beschäftigung im Dezember 1980 ein Entgelt von 209,-- DM, 1981 2.996,-- DM, 1982 3.138,-- DM, von Januar bis August 1983 1.838,-- DM, von September bis Dezember 1983 1.410,-- DM, von Januar bis Juni 1984 1.410,-- DM, von Juli bis Dezember 1984 1.944,-- DM, von Januar bis März 1985 729,-- DM, von April bis Mai 1985 486,-- DM, im Juni 1985 243,-- DM und von Juli bis September 1985 756,-- DM.

Mit Schreiben vom 19. April 1985 stellte die Beklagte gegenüber den Klägern die Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1) ab 16. November 1979 fest und forderte Beiträge für die Zeit vom 1. Dezember 1980 bis 31. März 1985 nach. Die Beitragsnachforderung betrage für die Rentenversicherung 2.505,22 DM und für die Krankenversicherung 2.265,93 DM.

Ein entsprechendes Schreiben erging gegenüber der Beigeladenen zu 2). Diese erkannte die Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1) an und überwies den auf sie entfallenden Teil der Beiträge.

Nachdem die Kläger sich geweigert hatten, der Beitragsforderung nachzukommen, erließ die Beklagte einen förmlichen Bescheid vom 29. August 1985, in dem für die Zeit vom 1. Dezember 1980 bis 31. Juli 1985 eine Gesamtforderung von 5.193,99 DM festgesetzt wurde. Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch begehrten die Kläger Aufhebung des Bescheides, soweit er die Zeit bis 31. Dezember 1984 betrifft. Der Widerspruch führte lediglich zu einer Berichtigung der Beitragsforderung (Schreiben vom 29. Oktober 1985; Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1985). Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Schleswig -SG- vom 2. Dezember 1986).

Die Berufung der Kläger ist zurückgewiesen worden (Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts -LSG- vom 5. Mai 1987). Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß die Beigeladene zu 1) in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung versicherungspflichtig sei, da eine Versicherungsfreiheit wegen geringfügiger Beschäftigung nicht vorliege. Zwar seien beide Beschäftigungsverhältnisse für sich genommen wegen der geringen Höhe des Entgelts und der Kürze der Arbeitszeit geringfügige Beschäftigungen iS von § 8 Abs 1 Nr 1 des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB 4). Versicherungspflicht ergäbe sich jedoch daraus, daß gemäß § 8 Abs 2 SGB 4 Arbeitszeit und Entgelt mehrerer Beschäftigungsverhältnisse, die regelmäßig ausgeübt werden, aber wegen der Dauer der Arbeitszeit und der Höhe des Entgelts für sich genommen als geringfügig anzusehen seien, zusammenzurechnen seien. Diese Zusammenrechnung ergebe, daß im vorliegenden Fall die Entgeltgrenzen überschritten worden seien und damit die Geringfügigkeit entfallen sei. Auf die Versicherungspflicht sei auch ohne Einfluß, ob den einzelnen Arbeitgebern das jeweils andere Beschäftigungsverhältnis bekannt sei; denn nach § 22 SGB 4 entstehe die Versicherungs-und Beitragspflicht ohne weiteres, wenn die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen vorlägen und keine Befreiungsregelung eingreife.

Ein besonderer Schutz für den Arbeitgeber bestehe nicht und sei auch nicht erforderlich. Der Arbeitgeber habe die Möglichkeit, für jeden seiner Arbeitnehmer das Bestehen oder Nichtbestehen von Versicherungspflicht durch die Einzugsstellen überprüfen zu lassen. Das gelte auch bei geringfügig Beschäftigten. Bei entsprechender Anfrage hätte die Beklagte die Kläger über das Ergebnis einer Prüfung bescheiden müssen. Falls ein solcher Bescheid die Versicherungspflicht verneine, werde ein Vertrauenstatbestand geschaffen, der einer späteren Inanspruchnahme entgegenstehen könne. Die geltend gemachte Beitragsforderung sei auch weder verjährt noch verwirkt.

Mit der Revision erstreben die Kläger weiterhin die Aufhebung der angefochtenen Bescheide, soweit Beiträge für die Zeit vom 1. Dezember 1980 bis 31. Dezember 1984 gefordert werden. Sie sind der Auffassung, daß die Verpflichtung des Arbeitgebers, Sozialversicherungsbeiträge einzuziehen, voraussetze, daß ihm sowohl die Mehrfachbeschäftigung des Arbeitnehmers als auch die besonderen Bedingungen eines mit einem anderen Arbeitgeber abgeschlossenen Arbeitsvertrages bekannt seien. Hierzu berufen sie sich auf das Urteil des erkennenden Senats vom 27. November 1984 (BSGE 57, 253). Außerdem sei nach der neueren Rechtsprechung des BSG eine rückwirkende Beitragserhebung nur zulässig, wenn der Versicherte Kenntnis von seinem Versicherungsschutz und damit die Möglichkeit gehabt habe, Ansprüche im Rahmen des Versicherungsverhältnisses geltend zu machen (BSGE 39, 235; 51, 89, 97 bis 98; SozR 2200 § 313 Nr 8). Der Umstand, daß der Versicherte von seiner Versicherung nichts gewußt habe, nötige nach der Rechtsprechung des BSG zur sorgfältigen Prüfung, ob die Beitragsforderung nicht gegen Treu und Glauben verstoße (BSGE 57, 179 = USK 84194). Das LSG überspanne die Anforderungen an den Arbeitgeber. Die vom LSG den Arbeitgebern zugemutete Anfrage bei der zuständigen Kasse gehe ins Leere, da geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nicht angemeldet würden, so daß die Kasse nicht wissen könne, ob bereits ein anderes geringfügiges Beschäftigungsverhältnis bestehe.

Die Kläger beantragen,

die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom

29. August 1985 idF des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1985

aufzuheben, soweit rückständige Sozialversicherungsbeiträge für die

Zeit bis Dezember 1984 verlangt werden.

Die Beklagte und die Beigeladene zu 1) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beziehen sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil.

Die Beklagte weist außerdem darauf hin, daß die von den Klägern angeführten BSG-Entscheidungen nicht einschlägig seien. Das Urteil vom 27. November 1984 enthalte keinen Hinweis, daß die Beitragspflicht bei Unkenntnis des Arbeitgebers von weiteren Beschäftigungsverhältnissen entfalle. Die Urteile vom 30. November 1983 (SozR 2200 § 313 Nr 8) und vom 9. Oktober 1984 (BSGE 57, 179 = USK 84194) beträfen die Erhebung von Beiträgen beim Versicherten selbst, nicht aber den Fall, daß der Arbeitgeber den Arbeitnehmer irrtümlich als versicherungsfrei angesehen habe. Der Weg, den das LSG gezeigt habe, sei richtig. Die Kasse könne in einem solchen Fall bei dem Arbeitnehmer ermitteln, ob Versicherungspflicht gegeben sei.