BAG Urteil vom 27.07.2010 - 3 AZR 317/08
Leitsatz (amtlich)
1. Die Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf hat nach § 4 Abs. 2 BBiG grundsätzlich in einem Berufsausbildungsverhältnis zu erfolgen. Möglich ist ferner der Erwerb der dazu notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten in einem Arbeitsverhältnis. Der Abschluss eines anderen Vertragsverhältnisses iSv. § 26 BBiG ist unzulässig.
2. Schließen die Vertragsparteien keinen Berufsausbildungsvertrag, sondern begründen ein anderes Vertragsverhältnis nach § 26 BBiG auf der Grundlage eines “Anlernvertrags”, ist dieser nach § 4 Abs. 2 BBiG iVm. § 134 BGB nichtig. Auf das Rechtsverhältnis sind die Regeln über das fehlerhafte (faktische) Arbeitsverhältnis anzuwenden. Es ist das für Arbeitnehmer übliche Arbeitsentgelt zu zahlen.
Orientierungssatz
1. Die Ausbildung in einem anerkannten Handwerksberuf muss nach § 4 Abs. 2 BBiG grundsätzlich in einem Berufsausbildungsverhältnis stattfinden. Der Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten in einem anerkannten Ausbildungsberuf ist außerdem im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses möglich.
2. Unzulässig ist es, die Ausbildung in einem “anderen Vertragsverhältnis” iSd. § 26 BBiG durchzuführen. Dahingehende Verträge – etwa “Anlernverträge” – sind nach § 4 Abs. 2 BBiG iVm. § 134 BGB insgesamt nichtig. Für sie gelten die Regeln über das fehlerhafte (faktische) Arbeitsverhältnis. Der Senat hat nicht entschieden, ob sich die Vertragsparteien jederzeit von dem fehlerhaften Arbeitsverhältnis lösen können oder ob dem der Schutzzweck des Berufsbildungsgesetzes entgegensteht.
3. In einem derartigen faktischen Arbeitsverhältnis schuldet der Arbeitgeber das übliche Entgelt nach § 612 Abs. 2 BGB. Im Maler- und Lackiererhandwerk sind dies die durch die Dritte Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Maler- und Lackiererhandwerk vom 31. August 2005 erstreckten Arbeitsbedingungen des TV Mindestlohn.
4. Dahingestellt bleibt, ob tarifliche Ausschlussfristen stets Teil des an einem Tarifvertrag orientierten üblichen Entgelts iSd. § 612 Abs. 2 BGB sind. Jedenfalls für die im TV Mindestlohn geregelten Ausschlussfristen trifft dies zu.
5. Die Ausschlussfrist in § 4 Abs. 4 TV Mindestlohn ist eingehalten, wenn der Anspruch innerhalb von zwölf Monaten nach seiner Fälligkeit schriftlich geltend gemacht wird; einer Klageerhebung bedarf es nicht.
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Urteil vom 21.02.2008; Aktenzeichen 7 Sa 659/07) |
ArbG Hannover (Urteil vom 21.03.2007; Aktenzeichen 1 Ca 27/07) |
Tenor
1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 21. Februar 2008 – 7 Sa 659/07 – teilweise aufgehoben und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 21. März 2007 – 1 Ca 27/07 – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen – teilweise abgeändert und der Beklagte verurteilt, an die Klägerin 3.503,05 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 29. Dezember 2006 zu zahlen.
2. Die weitergehende Revision des Beklagten wird zurückgewiesen.
3. Von den Kosten der ersten Instanz und des Berufungsverfahrens haben die Klägerin 70 % und der Beklagte 30 % zu tragen. Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Klägerin zu 8 % und der Beklagte zu 92 % zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten noch darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin auf der Basis einer regelmäßigen Arbeitszeit von 25 Stunden/Woche für den Zeitraum vom 1. November 2005 bis zum 7. November 2006 die Differenz zwischen ihrem aufgrund eines “Anlernvertrages” bezogenen Entgelt und dem Mindestentgelt nach dem “Tarifvertrag zur Regelung eines Mindestlohnes für gewerbliche Arbeitnehmer im Maler- und Lackiererhandwerk” (hiernach: TV Mindestlohn) zu zahlen.
Rz. 2
Die Klägerin ist 1984 geboren. Sie war zunächst vom 1. März bis zum 31. August 2005 bei dem beklagten Malermeister tätig. Grundlage war ein “Vertrag über eine Einstiegsqualifizierung zum Ausbildungsberuf Malerin und Lackiererin”. Ziel des Vertrages war “die Vermittlung von Grundkenntnissen und -fertigkeiten, die für den Einstieg in eine Berufsausbildung förderlich sind”.
Rz. 3
Anschließend bot der Beklagte der Klägerin den Abschluss eines Berufsausbildungsvertrages an. Das lehnte die Klägerin ab, weil sie nicht zur Berufsschule gehen wollte. Die Parteien schlossen stattdessen für die Zeit vom 1. September 2005 bis zum 31. August 2007 einen “Anlernvertrag für die Vermittlung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten im Beruf: Maler- und Lackiererin – Gestaltung und Instandhaltung” (hiernach: Anlernvertrag). Der Vertrag lautet auszugsweise:
“…
§ 2 – Tätigkeit
Ziel des Vertrags ist die Vermittlung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten in Anstricharbeiten innen und außen, Tapezieren, Objektlackierungen, Wärmedämmarbeiten, Gerüstaufbau, Bodenbelagsarbeiten, Trockenbau und Putzarbeiten.
Der Einstieg beginnt am 01.09.05 und endet am 31.08.07.
…
§ 3 – Die Obliegenheiten der Anzulernenden
Die Anzulernende hat ihre ganze Arbeitskraft dem Unternehmen gewissenhaft zu widmen:
1. die Anzulernende muss sich bemühen, die Fertigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die erforderlich sind, um den Malerberuf ausüben zu können;
2. sie verpflichtet sich zu lernen und die aufgetragenen Arbeiten sorgfältig auszuführen;
3. den Weisungen zu folgen, die ihr im Rahmen des Anlernens erteilt werden;
…
§ 4 – Die Obliegenheiten des Arbeitgeber
1. dafür sorgen, dass die Anzulernende die Fertigkeiten und Kenntnisse erhält, die zum Erreichen des Anlernzieles erforderlich sind;
2. die Anlernzeit in einer durch ihren Zweck gebotenen Form planmäßig und sachlich gegliedert so durchzuführen, so dass das Ziel erreicht wird;
…
5. der Anzulernenden Verrichtungen zu übertragen, die dem Anlernungszweck dienen und ihren körperlichen Kräften angemessen sind;
…
§ 5 – Vergütung und Arbeitszeit
Die Anzulernende erhält eine monatliche Vergütung von 550,00 € brutto. …
§ 6 – Krankheit
In Krankheitsfällen wird das Entgelt nur bis zur Dauer von sechs Wochen weitergezahlt. …
§ 9 – Verschiedenes
…
Sollte eine der Bestimmungen dieses Vertrages ganz oder teilweise rechts unwirksam sein oder werden, so wird die Gültigkeit der übrigen Bestimmungen dadurch nicht berührt. In einem solchen Fall ist der Vertrag vielmehr seinem Sinne gemäß zur Durchführung zu bringen. Beruht die Ungültigkeit auf einer Leistungs- oder Zeitbestimmung, so tritt an ihre Stelle das gesetzlich zulässige Maß.
…”
Rz. 4
Die Klägerin war vom 16. Oktober bis zum 13. November 2006 arbeitsunfähig erkrankt. Am 7. November 2006 kündigte sie das Vertragsverhältnis fristlos. Mit Anwaltsschreiben vom 10. Dezember 2006 forderte sie den Beklagten zunächst zur Erteilung eines Zeugnisses sowie zur Herausgabe der Arbeitspapiere auf. Mit weiterem Anwaltsschreiben vom 20. Dezember 2006 machte sie – unter Fristsetzung bis zum 28. Dezember 2006 – für den Zeitraum vom 1. September 2005 bis einschließlich 7. November 2006 auf der Basis des TV Mindestlohn Entgeltdifferenzansprüche geltend.
Rz. 5
Diese Ansprüche hat sie mit der vorliegenden Klage weiter verfolgt. Sie hat die Auffassung vertreten, der Anlernvertrag sei nichtig. Eine Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf außerhalb eines ordentlichen Berufsausbildungsverhältnisses sei nicht erlaubt. Der nichtige Anlernvertrag könne nicht in ein Ausbildungsverhältnis umgedeutet werden. Vielmehr liege ein Arbeitsverhältnis vor; zumindest fänden die Grundsätze des faktischen Arbeitsverhältnisses Anwendung.
Rz. 6
Der Beklagte schulde ihr deshalb für die geleisteten Tätigkeiten eine Vergütung nach den einschlägigen Mindesttarifsätzen für Hilfsarbeiter. Die Klägerin sei tatsächlich wie eine ungelernte Arbeitnehmerin beschäftigt worden und habe die Arbeiten eigenständig durchgeführt. Nur einige Tätigkeiten seien ihr ein- oder zweimal von den Gesellen gezeigt worden. Für die meisten Verrichtungen sei keine Unterweisung erforderlich gewesen, zumal ihr die Grundlagen verschiedener Arbeiten bereits während der Einstiegsqualifizierung vermittelt worden seien.
Rz. 7
Soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse, hat die Klägerin die Differenz geltend gemacht zwischen der gezahlten monatlichen Vergütung von 550,00 Euro und einer monatlichen Vergütung von 850,42 Euro (25 Wochenstunden × 7,85 Euro Stundenlohn gemäß TV Mindestlohn × 13 : 3), also 300,42 Euro pro Kalendermonat für November 2005 bis Oktober 2006, sowie für November 2006 198,43 Euro (850,42 Euro : 30 × 7), insgesamt also 3.803,47 Euro.
Rz. 8
Die Klägerin hat insoweit zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 3.803,47 Euro brutto nebst Zinsen iHv. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 29. Dezember 2006 zu zahlen.
Rz. 9
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Rz. 10
Er hat die Auffassung vertreten, der Anlernvertrag sei als anderes Vertragsverhältnis iSd. § 26 BBiG wirksam vereinbart. Dadurch wäre es der Klägerin nach Sammlung weiterer Berufserfahrung möglich geworden, eine Zulassung zur Abschlussprüfung über die Ausnahmeregelung des § 45 Abs. 2 BBiG zu erreichen. Die Klägerin habe nach einem strukturierten Ausbildungsplan dieselben Tätigkeiten verrichtet wie eine Auszubildende. Alle Tätigkeiten seien unter ständiger Anleitung und Kontrolle solange geübt worden, bis sie “gesessen” hätten. Selbständig und ohne Beaufsichtigung habe die Klägerin nur gearbeitet, wenn dies nach dem jeweiligen Ausbildungsstand möglich und zu verantworten gewesen sei.
Rz. 11
Selbst wenn man annähme, der Anlernvertrag sei unwirksam, stünde der Klägerin nicht die Vergütung nach dem TV Mindestlohn, sondern lediglich die übliche Ausbildungsvergütung, die dahinter zurückbleibe, zu. Das folge auch daraus, dass es sich bei der Klägerin um eine jugendliche Arbeitnehmerin iSd. TV Mindestlohn gehandelt habe.
Rz. 12
Das Arbeitsgericht hat die Klage, einschließlich weitergehender Ansprüche, abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht ihr hinsichtlich der in die Revisionsinstanz gelangten Ansprüche stattgegeben. Mit seiner Revision verfolgt der Beklagte auch insoweit das Ziel der Klageabweisung. Die Klägerin begehrt die Zurückweisung der Revision.