BAG Urteil vom 14.06.2023 - 8 AZR 136/22
Entscheidungsstichwort (Thema)
erfolgloser Bewerber. Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung. Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Vermutung der Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung iSv. § 22 AGG. Anforderungen an die Darlegungslast der klagenden Partei. Vortrag „ins Blaue hinein”. Widerlegung der Kausalitätsvermutung. Höhe der Entschädigung
Leitsatz (amtlich)
Ein erfolgloser schwerbehinderter Bewerber genügt in einem Schadensersatz- bzw. Entschädigungsprozess nach § 15 Abs. 1 und/oder Abs. 2 AGG seiner Darlegungslast für die Kausalität der Schwerbehinderung für die Benachteiligung regelmäßig dadurch, dass er eine Verletzung des Arbeitgebers gegen Bestimmungen rügt, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Er muss für die von ihm nur vermutete Tatsache eines Verstoßes des Arbeitgebers gegen die og. Vorschriften, zB dass der Betriebsrat nicht den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX entsprechend über die Bewerbung unterrichtet wurde, vor dem Hintergrund, dass es sich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des Prozessgegners handelt, in die ein Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis als Außenstehender regelmäßig keinen Einblick hat und sich auch zumutbar nicht verschaffen kann, regelmäßig keine konkreten Anhaltspunkte darlegen.
Orientierungssatz
1. Der Sachvortrag einer Partei ist bereits dann schlüssig, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Nähere Einzelheiten muss die Partei nur vortragen, wenn diese für die Rechtsfolgen von Bedeutung sind (Rn. 28).
2. Hat eine Partei mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde kein zuverlässiges Wissen über Tatsachen, und kann sie ein solches Wissen auch nicht zumutbar erlangen, kann sie dennoch die entsprechenden Tatsachen behaupten, die sie nach Lage der Dinge für wahrscheinlich oder jedenfalls für möglich hält, dh. die sie nur vermutet. Unbeachtlich ist ihr Sachvortrag erst, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl” oder „ins Blaue hinein” aufstellt. Jedoch ist bei der Annahme von Willkür in diesem Sinn Zurückhaltung geboten. In der Regel wird Willkür nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte angenommen werden können (Rn. 29).
3. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrensund/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, regelmäßig die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG, die der erfolglose Bewerber durch die Nichtberücksichtigung im Bewerbungsverfahren erfahren hat, wegen der Schwerbehinderung erfolgte (Rn. 22).
4. Ein erfolgloser schwerbehinderter Bewerber genügt in einem Schadensersatz- bzw. Entschädigungsprozess nach § 15 Abs. 1 und/oder Abs. 2 AGG seiner Darlegungslast für die Kausalität der Schwerbehinderung für die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG regelmäßig dadurch, dass er eine Verletzung des Arbeitgebers gegen Bestimmungen rügt, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Er muss für die von ihm nur vermutete Tatsache eines solchen Verstoßes des Arbeitgebers, zB dass der Betriebsrat nicht den Vorgaben des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX entsprechend über die Bewerbung unterrichtet wurde, regelmäßig keine konkreten Anhaltspunkte darlegen, da es sich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des Prozessgegners handelt, in die ein Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis als Außenstehender regelmäßig keinen Einblick hat und sich auch zumutbar nicht verschaffen kann. Dies entspricht der unionsrechtlichen Vorgabe, wonach die Ausübung der durch die Richtlinie 2000/78/EG verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich gemacht, noch übermäßig erschwert werden darf, und wonach im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, von den nationalen Gerichten sicherzustellen ist, dass eine Verweigerung von Informationen durch die beklagte Partei nicht die Verwirklichung der ua. mit der Richtlinie 2000/78/EG verfolgten Ziele zu beeinträchtigen droht (Rn. 32 und 37).
5. Der Arbeitgeber kann die Kausalitätsvermutung des § 22 AGG ua. dadurch widerlegen, dass er darlegt und im Bestreitensfall beweist, dass der erfolglose Bewerber eine formale Qualifikation nicht aufweist oder eine formale Anforderung nicht erfüllt, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit bzw. des Berufs an sich ist (Rn. 45).
6. Der Umstand, dass es sich um einen privaten Arbeitgeber handelt, rechtfertigt es nicht, eine höhere Entschädigung als angemessen iSv. § 15 Abs. 2 AGG anzusehen als bei einem öffentlichen Arbeitgeber (Rn. 59).
Normenkette
BGB § 242; AGG §§ 1, 3, 6, 7 Abs. 1, §§ 15, 22; SGB IX § 155 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 1-2; ArbGG § 61b; ZPO § 138 Abs. 3
Verfahrensgang
LAG Hamburg (Urteil vom 02.07.2021; Aktenzeichen 2 Sa 58/20) |
ArbG Hamburg (Urteil vom 02.09.2020; Aktenzeichen 28 Ca 142/20) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird - unter Zurückweisung der Revision im Übrigen - das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 2. Juli 2021 - 2 Sa 58/20 - im Kostenpunkt vollständig und im Übrigen teilweise aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 2. September 2020 - 28 Ca 142/20 - teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. 7.500,00 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18. Januar 2020 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 25 vH und die Beklagte 75 vH zu tragen.
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger wegen einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet ist.
Rz. 2
Der Kläger, der ein Studium der Wirtschaftswissenschaften absolviert hat, bewarb sich mit Schreiben vom 14. August 2019 auf die von der Beklagten im Internet ausgeschriebene Stelle als „Scrum Master Energy (m/w/d)“. Im Bewerbungsschreiben wies er auf seine Schwerbehinderung hin. Nachdem die Beklagte dem Kläger mit E-Mail vom 22. August 2019 eine Absage erteilt hatte, machte dieser mit Schreiben vom 19. Oktober 2019 gegenüber der Beklagten einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG geltend.
Rz. 3
Die Beklagte wies diesen Anspruch mit Schreiben vom 18. November 2019 mit der Begründung zurück, den Kläger nicht berücksichtigt zu haben, weil er die Anforderungen der Stellenausschreibung nicht erfülle. So fehle ihm beispielsweise der in der Stellenausschreibung geforderte Studienabschluss in einem der Studiengänge (Wirtschafts-)Informatik, (Wirtschafts-)Mathematik oder einer vergleichbaren Fachrichtung. Auch verfüge der Kläger nicht über die geforderten guten Kenntnisse von Software-Architekturen. Darüber hinaus entspreche die vom Kläger angegebene Scrum Zertifizierung nicht den Anforderungen der Stellenausschreibung.
Rz. 4
Mit Schreiben vom 27. November 2019 bat der Kläger die Beklagte darum, ihm nachzuweisen, dass sie im Hinblick auf ihre Auswahlkriterien sämtliche Bewerber gleichbehandelt habe. Hierauf reagierte die Beklagte nicht.
Rz. 5
Mit der am 10. Januar 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 17. Januar 2020 zugestellten Klage hat der Kläger einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG weiterverfolgt. Er hat die Ansicht vertreten, die Beklagte habe ihn entgegen den gesetzlichen Vorgaben wegen der Schwerbehinderung benachteiligt. Die Beklagte habe verschiedene Pflichten aus § 164 Abs. 1 SGB IX, ua. ihre Pflicht aus § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX verletzt, den bei ihr eingerichteten Betriebsrat über seine Bewerbung unmittelbar nach deren Eingang zu unterrichten. Diese Verstöße begründeten - jeder für sich - die Vermutung der Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Insoweit sei es im Übrigen ausreichend, wenn er Verstöße der Beklagten gegen Vorschriften rüge, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthielten. Ein solches Vorbringen sei nicht als Behauptung „ins Blaue hinein“ unbeachtlich. Desungeachtet habe er auch tatsächliche Anhaltspunkte für einen Verstoß der Beklagten gegen die Verfahrensbestimmungen in § 164 Abs. 1 SGB IX dargetan. Die Beklagte habe die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung nach § 22 AGG nicht widerlegt. Letztlich sei sein Entschädigungsverlangen auch nicht dem durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwand ausgesetzt. Insoweit wirke sich aus, dass er auf seine Bewerbungen am Ende des Jahres 2019 einen Arbeitsplatz bei einem Mitbewerber der Beklagten gefunden und angetreten habe. Als angemessen sei eine Entschädigung iHv. mindestens zwei auf der ausgeschriebenen Stelle zu erwartenden Bruttomonatsvergütungen, dh. iHv. 10.000,00 Euro anzusehen.
Rz. 6
Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, jedoch mindestens 10.000,00 Euro, nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. |
Rz. 7
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, dem Kläger nicht zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet zu sein. Der Kläger habe schon keine Indizien iSv. § 22 AGG dargelegt, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. der Schwerbehinderung vermuten ließen. Selbst für den Fall, dass dem Kläger mangels hinreichender Erkenntnismöglichkeiten Erleichterungen bei der Darlegungslast zugutekommen müssten, sei sein Vorbringen nicht ausreichend. Der Vortrag von Vermutungen sei nur dann ausreichend, wenn sich diese auf greifbare Anknüpfungstatsachen gründeten. Solche Anknüpfungstatsachen habe der Kläger nicht dargetan. Nach alledem habe der Kläger nur unbeachtliche Behauptungen „ins Blaue hinein“ aufgestellt, auf die sie nicht erwidern müsse und dies auch nicht tue. Desungeachtet sei eine etwaige Vermutung der Benachteiligung des Klägers wegen der Schwerbehinderung auch widerlegt, da der Kläger mehrere in der Stellenausschreibung genannte unverzichtbare Voraussetzungen für die Ausübung der Tätigkeit nicht erfülle. Im Übrigen handele der Kläger rechtsmissbräuchlich. Es sei zu vermuten, dass er sich auf die Stelle allein deshalb beworben habe, um in Reaktion auf die zu erwartende Absage eine Entschädigung geltend zu machen. Der Kläger habe in mehreren parallel geführten Verfahren Entschädigungsansprüche wegen angeblich diskriminierender Stellenabsagen verfolgt. Dabei habe er nahezu identische Bewerbungsschreiben verwendet. Auch die professionellen Geltendmachungsschreiben seien nahezu wortlautidentisch und belegten das systematische Vorgehen des Klägers. Bei dem Arbeitsplatz, den der Kläger bei einem Mitbewerber angetreten habe, habe es sich um eine anders geartete Stelle gehandelt.
Rz. 8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.