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BAG Urteil vom 23.03.2017 - 6 AZR 264/16

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Insolvenzrechtliche Einordnung einer Sonderzahlung nach angezeigter Masseunzulänglichkeit

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Leitsatz (amtlich)

Alle arbeitsrechtlichen Sonderzahlungen, dh. nicht nur solche mit reinem Entgeltcharakter, sondern auch solche zur reinen Belohnung von Betriebstreue oder mit „Mischcharakter”, unterliegen nach angezeigter Masseunzulänglichkeit § 209 InsO. Nur der auf die Zeit der Arbeitsleistung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit entfallende anteilige Anspruch ist als Neumasseverbindlichkeit iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 InsO zu berichtigen.

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Orientierungssatz

1. Unter welchen Voraussetzungen jährliche Sonderzahlungen als Masseverbindlichkeiten iSv. §§ 53, 55 InsO anzusehen sind, hängt vom Zweck der Sonderzahlung ab. Ob der Arbeitgeber erbrachte Arbeitsleistung zusätzlich vergütet oder sonstige Zwecke verfolgt, ist durch Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen zu ermitteln.

2. Sonderzahlungen mit reinem Betriebstreuecharakter, deren Stichtag nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegt, sind Masseverbindlichkeiten iSv. § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO.

3. Bei angezeigter Masseunzulänglichkeit tritt neben die Insolvenzeröffnung ein weiterer rechtlicher Einschnitt. § 209 InsO ordnet in diesem Fall die insolvenzrechtliche Rangfolge der Masseverbindlichkeiten.

4. Nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 InsO gelten die auf einem Dauerschuldverhältnis beruhenden Verbindlichkeiten als Neumasseverbindlichkeiten, soweit der Insolvenzverwalter die Gegenleistung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit für die Insolvenzmasse in Anspruch genommen hat. Der Verwalter nimmt die Gegenleistung des Arbeitnehmers „in Anspruch”, wenn er sie nutzt, den Arbeitnehmer also zur Arbeit heranzieht. Gegenleistung ist die vom Arbeitnehmer nach § 611 Abs. 1 BGB geschuldete Arbeitsleistung. Für sie schuldet der Insolvenzverwalter die volle Vergütung.

5. Alle arbeitsrechtlichen Sonderzahlungen, dh. nicht nur solche mit reinem Entgeltcharakter, sondern auch solche zur reinen Belohnung von Betriebstreue oder mit „Mischcharakter”, unterliegen nach angezeigter Masseunzulänglichkeit § 209 InsO. Neumasseverbindlichkeiten werden nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 InsO lediglich begründet, „soweit” die Gegenleistung zur Masse gelangt. Arbeitnehmer können deshalb nur verlangen, dass der auf die Zeit ihrer Arbeitsleistung (einschließlich entgeltfortzahlungspflichtiger sog. „unproduktiver” Ausfallzeiten) nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit entfallende anteilige Anspruch als Neumasseverbindlichkeit iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 InsO berichtigt wird.

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Normenkette

InsO §§ 53, 55 Abs. 1 Nr. 2, § 208 Abs. 1, 3, § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3; BGB §§ 133, 145, 151 S. 1, §§ 157, 611 Abs. 1; Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der obst-gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie, Essigindustrie Senfindustrie vom 8. Dezember 2004 § 10

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Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 10.02.2016; Aktenzeichen 12 Sa 1051/15)

ArbG Düsseldorf (Urteil vom 05.08.2015; Aktenzeichen 3 Ca 2646/15)

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Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten zu 1. wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 10. Februar 2016 – 12 Sa 1051/15 – aufgehoben.

2. Auf die Berufung der Beklagten zu 1. wird das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 5. August 2015 – 3 Ca 2646/15 – teilweise abgeändert: Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

3. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Von Rechts wegen!

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Tatbestand

Die Parteien streiten noch über die insolvenzrechtliche Einordnung einer Sonderzahlung.

Der Kläger wurde von der Beklagten zu 1. (künftig Beklagte) als gewerblicher Arbeitnehmer in der Lebensmittelproduktion beschäftigt. Grundlage war zunächst der schriftliche Arbeitsvertrag vom 1. Oktober 1980. Er lautet auszugsweise:

„Mit dem 1.10.1980 werden Sie in die Z als jugendl. Arbeiter zu dem in unserem Hause gültigen Lohntarifvertrag zur Probe eingestellt.

Es wird ein Probearbeitsverhältnis von 4 Wochen vereinbart.

Es endet, ohne dass es einer besonderen Kündigung bedarf, am 28.10.1980. …

Zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bedarf es in jedem Falle eines neuen Arbeitsvertrages.”

Der Kläger setzte seine Tätigkeit für die Beklagte nach dem 28. Oktober 1980 fort, ohne dass ein weiterer schriftlicher Arbeitsvertrag geschlossen wurde. Die Beklagte war Mitglied des Arbeitgeberverbands der Ernährungsindustrie Nordrhein-Westfalen. Der Kläger wurde wie die tarifgebundenen Arbeitnehmer im Bereich des Manteltarifvertrags für die Arbeitnehmer der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie, Essigindustrie, Senfindustrie (MTV) vergütet. Er erhielt neben einer Vielzahl anderer tariflicher Leistungen jeweils im November des Bezugsjahres zum Monatsende die Jahressonderzuwendung nach § 10 MTV. Zum 15. Januar 2011 trat die Beklagte aus dem Arbeitgeberverband aus.

Über das Vermögen der Beklagten wurde am 1. Mai 2014 das Insolvenzverfahren mit Eigenverwaltung eröffnet. Am 31. Oktober 2014 zeigte der Sachwalter an, die Masse sei unzulänglich. Das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger wurde zunächst fortgesetzt. Sein Monatsentgelt betrug zuletzt 2.406,00 Euro brutto.

Auf die Jahressonderzuwendung für das Jahr 2014 nach § 10 MTV vom 8. Dezember 2004 leistete die Beklagte im November 2014 zwei Zwölftel einer Bruttomonatsvergütung, dh. 401,00 Euro.

Der MTV lautet auszugsweise:

”§ 10 Jahressonderzuwendung

  1. Höhe und Anspruch

    Arbeitnehmer, die am 1. Dezember eines Kalenderjahres eine ununterbrochene Betriebszugehörigkeit von 11 Monaten haben und sich an diesem Tage im ungekündigten Arbeitsverhältnis befinden, erhalten eine Jahressonderzuwendung.

    Die Jahressonderzuwendung beträgt 100 % des tariflichen Monatsentgelts …

  2. Berechnungsgrundlagen

    Der Berechnung des tariflichen Monatsentgelts … sind die für den Berechtigten jeweils am 31.10. des Auszahlungsjahres für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie geltenden tariflichen Entgeltsätze

    … ohne Zulagen und Zuschläge zugrunde zu legen.

  3. Teilzeitbeschäftigte

    Teilzeitbeschäftigte erhalten die Jahressonderzuwendung in einer Höhe, die dem Verhältnis der mit ihnen vereinbarten Arbeitszeit zur regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit entspricht.

  4. Ruhen des Arbeitsverhältnisses

    Anspruchsberechtigte Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr ruht, erhalten keine Jahressonderzuwendung; ruht das Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr nur teilweise, so erhalten sie eine anteilige Leistung.

  5. Beendigung des Arbeitsverhältnisses

    Scheidet ein Arbeitnehmer vor dem 1. April aus, so hat er ein Viertel (25 %) der im Vorjahr erhaltenen Jahressonderzuwendung zurückzuzahlen.

  6. Saisonarbeitnehmer

    Abweichend von § 10 Abs. 1 und 2 erhalten Arbeitnehmer, die gemäß § 2 Abs. 4 c für saisonmäßig bedingte Arbeiten zusätzlich eingestellt werden, erstmalig eine Jahressonderzuwendung, wenn sie in ununterbrochener Folge 3 Jahre lang je mindestens 3 Monate als Saisonarbeiter im Betrieb beschäftigt waren.

    Die Jahressonderzuwendung wird anteilig mit einem Zwölftel für jeden vollen Saison-Beschäftigungsmonat gewährt. … Die anteilige Jahressonderzuwendung wird den Saisonarbeitnehmern am Schluss der Saison ausgezahlt. Maßgebend für die Berechnung dieser anteiligen Jahressonderzuwendung für Saisonarbeiter sind die zu diesem Zeitpunkt geltenden jeweiligen tariflichen Entgeltsätze in der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie.

  7. Anrechenbarkeit betrieblicher Leistungen

    Auf die Jahressonderzuwendung können betriebliche Leistungen wie ganz oder teilweise vereinbarte 13. Monatsentgelte, Gratifikationen, Weihnachtsgelder, Jahresabschlussvergütungen, einmalig gezahlte Treueprämien, übertarifliches Urlaubsgeld o. ä. angerechnet werden.

    Die Jahressonderzuwendung gilt als Einmalleistung im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen.”

Am 15. Dezember 2014 unterzeichnete der Kläger einen „Dreiseitigen Vertrag über Aufhebung des Arbeitsverhältnisses und Beginn eines Beschäftigungsverhältnisses” zwischen ihm, der Beklagten sowie einer Transfer- und Qualifizierungsgesellschaft. Durch den Vertrag wurde das Arbeitsverhältnis des Klägers und der Beklagten mit dem 21. Dezember 2014 aufgehoben. Für die Zeit vom 22. Dezember 2014 bis 21. Juli 2015 wurde ein Arbeitsverhältnis mit der Transfer- und Qualifizierungsgesellschaft begründet.

Mit seiner Klage hat der Kläger ua. eine restliche Jahressonderzuwendung nach § 10 MTV von 2.005,00 Euro brutto geltend gemacht. Er hat die Auffassung vertreten, wegen des tariflichen Stichtags am 1. Dezember sei der Anspruch auf die Jahressonderzuwendung erst nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit entstanden und in vollem Umfang Neumasseverbindlichkeit. Es handle sich um eine rein stichtagsabhängige Sonderleistung. Selbst wenn der Jahressonderzuwendung ein „Mischcharakter” zukomme, der arbeitsleistungsbezogene Elemente mit Betriebstreuezwecken vereine, dürfe sie insolvenzrechtlich nicht in verschiedene Forderungskategorien für die Zeit vor und nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit aufgeteilt werden.

Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht – soweit für die Revision von Interesse – beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.406,00 Euro brutto Jahressonderzahlung abzüglich geleisteter 401,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 4. Dezember 2014 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, die Jahressonderzuwendung habe zumindest auch Entgeltcharakter. Angesichts der Daten der Insolvenzeröffnung am 1. Mai 2014 und der Anzeige der Masseunzulänglichkeit am 31. Oktober 2014 sei die Forderung insolvenzrechtlich aufzuteilen in vier Zwölftel Insolvenzforderung, sechs Zwölftel Altmasseverbindlichkeit und zwei Zwölftel – unstreitig erfüllte – Neumasseverbindlichkeit. Hinsichtlich der Altmasseverbindlichkeit komme lediglich ein Feststellungsantrag in Betracht. Die Insolvenzforderung sei zur Tabelle anzumelden.

Das Arbeitsgericht hat der auf die Jahressonderzuwendung gerichteten Klage in Höhe von 1.403,50 Euro brutto nebst Zinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Es hat insgesamt eine Neumasseverbindlichkeit bejaht. Der Anspruch sei aufgrund des Ausscheidens des Klägers im Dezember 2014 nach § 10 Nr. 5 MTV auf 75 % von 2.406,00 Euro brutto zu kürzen, dh. auf 1.804,50 Euro brutto. Davon seien die bereits geleisteten 401,00 Euro brutto abzuziehen. Das Landesarbeitsgericht hat die nur von der Beklagten geführte Berufung gegen das Urteil erster Instanz zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte weiter das Ziel der vollständigen Klageabweisung.