BAG Urteil vom 11.08.2016 - 8 AZR 375/15
Entscheidungsstichwort (Thema)
Benachteiligung wegen der Behinderung. Bewerberauswahl. Schwerbehinderung. Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch
Leitsatz (amtlich)
Den öffentlichen Arbeitgeber trifft in einem Prozess die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der/die schwerbehinderte Bewerber/in offensichtlich fachlich ungeeignet iSv. § 82 Satz 3 SGB IX ist. Der öffentliche Arbeitgeber muss aber bereits im Verlauf des Auswahlverfahrens prüfen und entscheiden können, ob er einen schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einladen muss oder ob er nach § 82 Satz 3 SGB IX von der Verpflichtung zur Einladung befreit ist. Diese Prüfung und Entscheidung muss der/die schwerbehinderte Bewerber/in dem öffentlichen Arbeitgeber durch entsprechende Angaben zu seinem/ihrem fachlichen Leistungsprofil in der Bewerbung bzw. den beigefügten Bewerbungsunterlagen ermöglichen. Kommt der/die Bewerber/in dieser Mitwirkungspflicht nicht ausreichend nach, geht dies regelmäßig zu seinen/ihren Lasten. Auch in einem solchen Fall besteht für den öffentlichen Arbeitgeber regelmäßig keine Verpflichtung, den schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
Orientierungssatz
1. Nach § 82 Satz 2 SGB IX ist der öffentliche Arbeitgeber verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber/innen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Nach § 82 Satz 3 SGB IX ist eine Einladung entbehrlich, wenn dem schwerbehinderten Bewerber/der schwerbehinderten Bewerberin die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.
2. Die Verletzung der in § 82 Satz 2 SGB IX geregelten Verpflichtung eines öffentlichen Arbeitgebers, eine/n schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, begründet regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung.
3. Der Begriff des Bewerbers iSv. § 82 Satz 2 SGB IX entspricht dem Bewerberbegriff nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG. Diese Bestimmung enthält einen formalen Bewerberbegriff, wonach derjenige Bewerber ist, der eine Bewerbung eingereicht hat. Der Begriff des „Bewerbers” ist nicht restriktiv dahin auszulegen, dass der Bewerbung prüffähige neutrale Unterlagen, insbesondere Zeugnisse, beigefügt werden müssen, weil der öffentliche Arbeitgeber nur dann sachgerecht prüfen könnte, ob ein/e Bewerber/in fachlich geeignet ist oder dies offensichtlich nicht der Fall ist. § 82 Satz 3 SGB IX regelt nicht den Bewerberbegriff.
4. „Offensichtlich” fachlich nicht geeignet nach § 82 Satz 3 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch, wenn er insoweit „unzweifelhaft” nicht dem Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle entspricht. Bloße Zweifel an der fachlichen Eignung rechtfertigen es nicht, von einer Einladung abzusehen, weil sich Zweifel im Vorstellungsgespräch ausräumen lassen können. Der schwerbehinderte Mensch soll die Chance haben, sich in einem Vorstellungsgespräch zu präsentieren und den öffentlichen Arbeitgeber von seiner Eignung zu überzeugen.
5. Zwar trifft den öffentlichen Arbeitgeber in einem Prozess die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der/die schwerbehinderte Bewerber/in offensichtlich fachlich ungeeignet ist. Allerdings muss der öffentliche Arbeitgeber bereits nach Eingang der Bewerbung prüfen und entscheiden können, ob er einen schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einladen muss oder ob er nach § 82 Satz 3 SGB IX von der Verpflichtung zur Einladung befreit ist. Diese Prüfung und Entscheidung muss der/die schwerbehinderte Bewerber/in dem öffentlichen Arbeitgeber durch entsprechende Angaben zu seinem/ihrem fachlichen Leistungsprofil in der Bewerbung bzw. den beigefügten Bewerbungsunterlagen ermöglichen. Kommt der/die Bewerber/in dieser Mitwirkungspflicht nicht ausreichend nach, geht dies regelmäßig zu seinen/ihren Lasten. Auch in einem solchen Fall besteht für den öffentlichen Arbeitgeber regelmäßig keine Verpflichtung, den schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Urteil vom 02.06.2015; Aktenzeichen 8 Sa 1374/14) |
ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 24.04.2014; Aktenzeichen 21 Ca 8338/13) |
Tenor
Die Revision der beklagten Stadt gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 2. Juni 2015 – 8 Sa 1374/14 – wird zurückgewiesen.
Die beklagte Stadt hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen! |
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die beklagte Stadt verpflichtet ist, dem Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung zu zahlen.
Der Kläger ist ausgebildeter Zentralheizungs- und Lüftungsbauer sowie staatlich geprüfter Umweltschutztechniker im Fachbereich alternative Energien. Ausweislich seines Schwerbehindertenausweises vom 12. Juli 2011 beträgt der Grad seiner Behinderung 50.
Die beklagte Stadt schrieb Mitte 2013 die Stelle eines „Techn. Angestellte/n EGr. 11 TVöD (VergGr. IVa/III BAT)” aus. In der Stellenausschreibung heißt es auszugsweise:
„Zu Ihren Aufgaben gehören: Verantwortliche Leitung des Sachgebietes ≫Betriebstechnik≪ mit den Gewerken Elektro, Heizung/Sanitär, Schreiner, Schlosser, Maler sowie Fahrer; Werkstattleitung, Personalführung, Fachaufsicht und Spitzensachbearbeitung; Verantwortung für Betrieb und Unterhaltung der technischen Anlagen und Gebäude des P; Abwicklung von Reparaturen, Wartung, Prüfung und baulicher Instandhaltung mittels eigener Mitarbeiter sowie Fremdfirmen; Organisation und Abwicklung von Servicedienstleistungen für Ausstellungen und Veranstaltungen; technische Abwicklung von Ausstellungen und Veranstaltungen; verantwortliche Bearbeitung zugewiesener Projektaufträge; Mitarbeit in Projektteams.
Wir erwarten: Dipl.-Ing. (FH) oder staatl. gepr. Techniker/in oder Meister/in im Gewerk Heizungs-/ Sanitär-/
Elektrotechnik oder vergleichbare Qualifikation; langjährige Berufs- und Führungserfahrung; fundierte Kenntnis und sichere Anwendung der einschlägigen Regelwerke, insbes. der BetrSichV, UVV, MLAR, HausPrüfVO, HBO, VOB, VOL; Führungs- und Organisationskompetenz; Kommunikationsstärke und Teamfähigkeit; soziale Kompetenz; Durchsetzungsvermögen; Verantwortungs- und Einsatzbereitschaft; selbstständiges Arbeiten; gute schriftliche und mündliche Ausdrucksfähigkeit; gute Kenntnisse der MS-Office-Programme; Bereitschaft zum gelegentlichen Dienst an Wochenenden und in den Abend- und Nachtstunden; Bereitschaft zur Weiterbildung; interkulturelle Kompetenz.
Hinweise: … Schwerbehinderte Menschen werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt. …
…
Ihre aussagefähigen Bewerbungsunterlagen richten Sie bitte bis zum 30.08.2013 unter Angabe der Kennziffer X an den:
Magistrat der Stadt …”
Der Kläger bewarb sich mit Schreiben vom 14. August 2013 auf die ausgeschriebene Stelle. In dem Bewerbungsschreiben heißt es:
„…
In meiner langjährigen Tätigkeit als Zentralheizungs- und Lüftungsbauer (Meisterrolleneintrag) und staatlich geprüfter Umweltschutztechniker im Fachbereich Alternative Energien habe ich umfangreiche Kenntnisse in den Bereichen Energieberatung und Management, Contracting, Energie- und Umweltrecht, Technischen Gebäudeautomation, Hygiene und Brandschutz erworben.
Neben der Objekt- und Projektleitung gehörte die Projektierung und Dokumentation der Anlagen und deren Technik zu meinem Aufgabengebiet. Darüber hinaus war ich Ansprechpartner für Kunden und Öffentlichkeitsarbeit.
Ebenso kenne ich mich im Bereich der Betriebliche Kostenrechnung (Angebotseinholung, Leistungsverzeichnis, Abrechnung, HOAI, VOB, usw.) aus.
Der Umgang mit der EDV, den gängigen Office-Anwendungen wie Excel, Word und Power Point und den einschlägigen Kommunikationsmitteln ist für mich selbstverständlich.
…”
Dem Bewerbungsschreiben des Klägers waren eine Kopie seines Schwerbehindertenausweises sowie ein insgesamt fünfseitiger tabellarischer Lebenslauf beigefügt, der auszugsweise folgende Angaben enthält:
”BERUFSERFAHRUNG |
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10/07- 09/12 |
Projektsachbearbeiter, … |
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Internationale Gebäudeautomation und Gebäudemanagementunternehmen, ca. 800 Mitarbeiter in Deutschland […] |
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Aufgaben |
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09/04-08/09 |
Stellvertretender Betriebsleiter in Teilzeit, … Umwelttechnik, Alternative Energien, Energieberatung, Heizung, Lüftung und Sanitär Unterstützung des Geschäftsführers, ca. 4 Mitarbeiter in Deutschland, |
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… |
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08/04-06/06 |
Weiterbildung zum Staatlich geprüften Umweltschutztechniker, Technikerschule, B, www. |
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Fachgebiet |
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Inhalt |
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… |
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10/99-10/00 |
Obermonteur, … 4 Mitarbeiter |
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Aufgaben |
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… |
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08/96-10/99 |
Hausmeister und Technischer Leiter, … |
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… |
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Aufgaben |
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… |
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08/88-08/96 |
Obermonteur, … 3-5 Mitarbeiter, |
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… |
AUSBILDUNG / STUDIEN |
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2011 |
Fernstudium zum Baubiologen IBN |
… |
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… |
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2006 |
Technikerschule B |
Abschluss:Staatlich geprüfter Umweltschutztechniker |
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Fachbereich: Alternative Energien, … |
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… |
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2006 |
Technikerschule B |
Zusatzprüfung: Ausbilder der Ausbilder … |
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… |
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1978 – 1981 |
… Ausbildung Heizungs- und Lüftungsbauer |
Abschluss: Facharbeiter |
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… |
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1969 – 1978 |
Grund- und Hauptschule G |
…” |
Auf die Stellenausschreibung der beklagten Stadt gingen bei dieser neben der Bewerbung des Klägers weitere 55 Bewerbungen ein.
Die beklagte Stadt lud den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein und teilte ihm mit Schreiben vom 4. November 2013 mit:
„…
Inzwischen wurde über die Besetzung der ausgeschriebenen Stelle entschieden.
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Sie hierbei nicht berücksichtigt werden konnten, da es hinsichtlich der Erfüllung der fachlichen Anforderungen einen besser qualifizierten Bewerber gab, der sehr ausgeprägte Fachkenntnisse sowie langjährige Berufserfahrung in allen genannten Gewerken vorweisen kann und zudem im besonderen Maße über die im Anforderungsprofil geforderte langjährige Führungserfahrung verfügt.
…”
Mit seiner am 15. November 2013 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger die beklagte Stadt auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. mindestens drei Monatsgehältern à 2.861,96 Euro in Anspruch genommen.
Er hat die Auffassung vertreten, die beklagte Stadt habe ihn im Auswahlverfahren wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Die beklagte Stadt sei nach § 82 Satz 2 SGB IX verpflichtet gewesen, ihn zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Eine Einladung sei nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil ihm offenkundig die fachliche Eignung für die zu besetzende Stelle gefehlt habe. Aufgrund seiner Ausbildung und langjährigen Berufserfahrung verfüge er über eine Qualifikation, die den in der Stellenausschreibung genannten Abschlüssen vergleichbar sei. Die geforderte langjährige Führungserfahrung habe er ua. während seiner Tätigkeit als Obermonteur gesammelt.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die beklagte Stadt zu verurteilen, an ihn eine angemessene Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die allerdings 8.585,88 Euro nicht unterschreiten sollte.
Die beklagte Stadt hat beantragt, die Klage abzuweisen. Der Kläger sei bei der Auswahlentscheidung für die zu besetzende Stelle nicht wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden. Der Kläger sei schon kein Bewerber iSv. § 82 Satz 2 SGB IX gewesen. Der Begriff der Bewerbung iSv. § 82 Satz 2 SGB IX sei restriktiv dahin auszulegen, dass eine Bewerbung nur vorliege, wenn dem Bewerbungsschreiben prüffähige neutrale Unterlagen, insbesondere Zeugnisse, beigefügt seien. Nur dann sei der öffentliche Arbeitgeber in der Lage, sachgerecht zu prüfen, ob der Interessent geeignet sei oder ob dies offensichtlich nicht der Fall sei. Desungeachtet sei sie nicht verpflichtet gewesen, den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, da der Kläger für die zu besetzende Stelle offensichtlich fachlich ungeeignet iSv. § 82 Satz 3 SGB IX sei. Der Kläger habe das zwingende Anforderungsprofil der Stellenausschreibung offensichtlich nicht erfüllt. Vergleichbar qualifiziert iSd. Stellenausschreibung sei nur, wer aufgrund seiner schulischen und beruflichen Ausbildung, seiner beruflichen Tätigkeit oder aufgrund anderweitig erworbener Kenntnisse denjenigen Stand an Kenntnissen habe, der durch die in der Ausschreibung genannten Ausbildungsabschüsse vermittelt würde. Zwar habe der Kläger eine Ausbildung zum Heizungs- und Lüftungsbauer abgeschlossen; in diesem Bereich sei er allerdings weder Meister noch staatlich geprüfter Techniker. Im Vordergrund seiner Ausbildung zum staatlich geprüften Umweltschutztechniker hätten die ökologische und ökonomische Energieverwendung und der Einsatz alternativer Energien und damit nur ein Spezialbereich der geforderten Gewerke „Heizungs-/Sanitär-/Elektrotechnik” gestanden. Ebenso habe der Kläger in seiner Bewerbung keine „langjährige Führungserfahrung” und „Führungskompetenz” nachgewiesen. Dass der Kläger nicht wegen seiner Behinderung diskriminiert worden sei, ergebe sich auch daraus, dass sie im Übrigen alle ihr nach dem SGB IX obliegenden Pflichten erfülle.
Das Arbeitsgericht hat der Klage in dem vom Kläger angegebenen Mindestumfang stattgegeben. Auf die Berufung der beklagten Stadt hat das Landesarbeitsgericht das erstinstanzliche Urteil – unter Klageabweisung im Übrigen – teilweise abgeändert und dem Kläger eine Entschädigung iHv. eines Monatsgehalts, dh. iHv. 2.861,96 Euro zugesprochen. Mit ihrer Revision verfolgt die beklagte Stadt ihr Begehren nach vollständiger Klageabweisung weiter.