LAG Baden-Württemberg Urteil vom 17.05.2017 - 4 Sa 1/17
Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachwirkung einer zwischenzeitlich gekündigten Betriebsvereinbarung über die Gewährung von Zuschüssen für die Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte
Leitsatz (amtlich)
In teilmitbestimmten Betriebsvereinbarungen über freiwillige Geldleistungen steht es den Betriebspartnern frei, eine Nachwirkung auch über den ansonsten mitbestimmungsfreien Dotierungsrahmen zu vereinbaren. Eine solche Nachwirkung muss aber unmissverständlich erklärt werden.(Anschluss an BAG 28. April 1998 - 1 ABR 43/97 und BAG 21. August 2001 - 3 ABR 44/00)
Tenor
- Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgericht Ulm vom 1.12.2016 (2 Ca 278/16) wird zurückgewiesen.
- Die Klägerin hat die Kosten der Berufung zu tragen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die (Fort-)Gewährung von Fahrtkostenerstattungen.
Die Beklagte ist die regionale Gliederung der Gewerkschaft X. für den Bezirk Südwürttemberg. Die Beklagte sowie die weiteren regionalen Gliederungen der X. und deren Landesverband führen einen Gemeinschaftsbetrieb, für den ein Betriebsrat gebildet ist.
Die Klägerin ist bei der Beklagten beschäftigt seit 1. September 1998 als Sekretärin auf der Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrages vom 6. August 1998 (Bl. 5 und 6 d. ArbG-Akte), der ua. auf die Allgemeinen Anstellungsbedingungen des DGB Bezug nimmt.
Die Klägerin erhielt bis letztmalig März 2016 von der Beklagten monatlich ein "Fahrgeld" bezahlt, welches sich zuletzt aufteilte in 11,00 € (pauschalversteuert) und 71,82 € (steuer- und sozialversicherungspflichtig) (Abrechnung, Bl. 7 d. ArbG-Akte). Die Steuerlast trug die Beklagte. Der sich hieraus ergebende Nettobetrag von 48,00 € entsprach dem monatlichem Preis eines Jahresabos der D.... GmbH. Grundlage dieser Zahlung war eine zwischen der Beklagten, den weiteren Bezirken und dem Landesverband der X. mit deren Betriebsrat geschlossenen Betriebsvereinbarung Nr. 9 vom 1. März 2003 (Fahrtkostenzuschuss) (Bl. 8 d. ArbG-Akte) (nachfolgend: BV Nr. 9), in welcher es wie folgt heißt:
"Zwischen
...
und
dem Betriebsrat
wird auf der Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes in seiner jeweils gültigen Fassung folgende Betriebsvereinbarung geschlossen:
1. Die Beschäftigten erhalten für die Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte die kostengünstigste Zeitkarte für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bis zum jeweiligen Höchstpreis einer Monats-/Jahreskarte der entsprechenden Verkehrsverbünde F., K. , S. und U. erstattet.
Die Erstattung der Kosten für öffentliche Verkehrsmittel ist steuer- und sozialversicherungsfrei. Bei PKW-Benutzung hingegen entsteht Steuer- und Sozialversicherungspflicht.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die einen Fahrtkostenzuschuss für die Fahrt mit dem Pkw erhalten, können zwischen folgenden Varianten wählen:
- Der Zuschuss wird als Bruttobestandteil behandelt und unterliegt der vollen Steuer- und Sozialversicherungspflicht.
- Der Zuschuss wird mit dem jeweils geltenden Pauschalsatz versteuert. Den Steueranteil trägt der Arbeitgeber.
- Der Zuschuss wird mit dem jeweils geltenden Pauschalsatz versteuert. Der Arbeitnehmer, die Arbeitnehmerin trägt die Pauschalsteuer selbst.
Die einmal getroffene Entscheidung des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin ist unwiderruflich.
2. Beschäftigte, deren tatsächliche Aufwendungen am 1. Januar 1984 über diesen Höchstbetrag lagen, erhalten weiterhin Besitzstandswahrung nach dem Stand vom 1.1.1984.
Diese Betriebsvereinbarung kann von jeder Seite mit einer Frist von drei Monaten zum Schluss des Kalendervierteljahres gekündigt werden. Für diesen Fall gilt die Nachwirkung bis zum Abschluss einer neuen Betriebsvereinbarung."
Mit Schreiben des Landesverbandes vom 7. Oktober 2004 (Bl. 10 d. ArbG-Akte) wurde dem Betriebsrat folgendes mitgeteilt:
"Liebe Kolleginnen,
lieber M.,
die Personalkommission hat am 5. Oktober 2004 beschlossen, die Betriebsvereinbarung Nr. 9 zum Fahrtkostenzuschuss fristgerecht zum 31. März 2005 zu kündigen.
Mit diesem Beschluss verfolgen wir nicht, die freiwilligen Sozialleistungen der X. einzuschränken, sondern möchten, dass gesetzlich beschlossene steuerliche Änderungen nicht vom Arbeitgeber getragen werden.
Wir schlagen als Neufassung die als Anlage beigefügte Formulierung vor und möchten den Sachverhalt in unserem nächsten Gespräch am 15. November 2004 behandeln."
Mit Schreiben vom 29. Oktober 2015 erklärten alle Vertragspartner der BV Nr. 9 auf Arbeitgeberseite gegenüber dem Betriebsrat:
"... haben beschlossen, ab 1. April 2016 keine Mittel mehr für Fahrtkostenzuschüsse, sei es für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sei es ein Zuschuss für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit dem PKW, zur Verfügung stellen, egal auf welcher Rechtsgrundlage und in welcher Höhe diese Zuschüsse bisher bezahlt wurden.
Deshalb kündigen wir vorsorglich erneut zum 31. März 2016 die Betriebsvereinbarung Nr. 9 (Fahrtkostenzuschuss). Ferner kündigen wir hiermit auch die Nachwirkungsregelung in der Betriebsvereinbarung Nr. 9, (Fahrtkostenzuschuss), letzter Absatz, fristgerecht zum 31. März 2016."
Die Klägerin meinte, die BV Nr. 9 sei schon mit Schreiben vom 7. Oktober 2004 gekündigt worden. Die Betriebsvereinbarung habe sich somit bereits seit 1. April 2005 im Zustand der Nachwirkung befunden. Eine (nochmalige) Kündigung einer Betriebsvereinbarung, die sich in der Nachwirkung befinde, sei unzulässig, da damit die Nachwirkung unterlaufen würde. Die alleinige Kündigung der Nachwirkung im Nachwirkungszeitraum sei nicht möglich.
Außerdem hätten die Betriebsparteien in der BV Nr. 9 vertraglich eine Nachwirkung begründet, die auch den freiwilligen Teil der teilmitbestimmten Regelungen umfasse.
Die Klägerin meinte, ihr stehe aus der BV Nr. 9 auch inhaltlich ein Zahlungsanspruch zu. Sie fahre zwar regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit, je nach Wetterlage gelegentlich aber auch mit dem Auto. Ihr sei auf der Grundlage der BV Nr. 9 auch in der Vergangenheit schließlich immer der Fahrtkostenzuschuss gezahlt worden.
Die Klägerin beantragte:
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 88,00 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 11,00 € netto ab 1.5., 1.6., 1.7., 1.8., 1.9., 1.10., 1.11. und 1.12.2016 zu bezahlen.
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin weitere 574,56 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 71,82 € ab 1.5., 1.6., 1.7., 1.8., 1.9., 1.10., 1.11. und 1.12.2016 zu bezahlen.
Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Sie vertrat die Auffassung, mit der Erklärung, keinen Dotierungsrahmen mehr zur Verfügung stellen zu wollen, habe sie die gesetzliche Nachwirkung beendet. Ohne "Topf" gebe es nichts mehr zu verteilen und deshalb für den Betriebsrat auch nichts mehr mitzubestimmen. Dies schlage auf die Nachwirkung durch.
Selbiges gelte für die vertragliche Nachwirkungsabrede. Ohne Verteilungsmasse sei eine Mitbestimmung sinnentleert.
Im Übrigen verweist die Beklagte darauf, dass der Klägerin schon nach der bestehenden BV Nr. 9 auch inhaltlich ein Anspruch nicht zustehe. Die Klägerin fahre nämlich regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit. Die Klage sei deshalb unschlüssig.
Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 1. Dezember 2016 abgewiesen. Es führte zur Begründung aus, die BV Nr. 9 wirke nicht gem. § 77 Abs. 6 BetrVG nach. Das Schreiben vom 7. Oktober 2004 sei keine Kündigung gewesen, sondern lediglich eine Ankündigung einer Kündigung. Gekündigt worden sei die Betriebsvereinbarung erst mit Schreiben vom 29. Oktober 2015. Eine bloß teilmitbestimmte Betriebsvereinbarung könne ohne Dotierungsrahmen nicht nachwirken. Die vereinbarte Nachwirkung könne unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertung des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nur so ausgelegt werden, dass diese nur so lange gelten könne, wie auch ein Dotierungsrahmen zur Verfügung stehe.
Dieses Urteil wurde der Klägerseite am 13. Dezember 2016 zugestellt. Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung der Klägerin, die am 11. Januar 2017 beim Landesarbeitsgericht einging und die am 10. Februar 2017 begründet wurde.
Die Klägerin beanstandet im Wesentlichen eine Verletzung materiellen Rechts.
Sie meint, der Wortlaut der Nachwirkungsvereinbarung sei eindeutig und somit weder auslegungsbedürftig noch auslegungsfähig. Die Betriebsparteien hätten eindeutig einen Fall wie den vorliegenden vor Augen gehabt. Es sei insbesondere zu berücksichtigen, dass die BV Nr. 9 tarifersetzenden Charakter habe. Hätte bei der Beklagten ein Tarifvertrag geschlossen werden können, hätte § 4 Abs. 5 TVG gegolten. Die nicht mögliche Tarifnachwirkung habe durch die Vereinbarung ersetzt werden sollen. Den Betriebsparteien stehe bei teilmitbestimmten Regelungen die Regelungsbefugnis zu, auch den sonst mitbestimmungsfreien "Topf" einer Nachwirkung zu unterstellen. Die Beklagte hätte zumindest die Einigungsstelle anrufen müssen.
Die Klägerin beantragt:
- Das Urteil des Arbeitsgericht Ulm - 2 Ca 278/16 - vom 1.12.2016 wird abgeändert.
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 88,00 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 11,00 € netto ab dem 1.5., 1.6., 1.7., 1.8., 1.9., 1.10., 1.11. und 1.12.2016 zu bezahlen.
- Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin weitere 574,56 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 71,82 € ab dem 1.5., 1.6., 1.7., 1.8., 1.9., 1.10., 1.11. und 1.12.2016 zu bezahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil im Wesentlichen unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird gem. § 64 Abs. 7 ArbGG iVm. § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.