BSG Urteil vom 30.01.2007 - B 2 U 23/05 R
Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. Unfallkausalität. Wesentliche Ursache bei Drogenkonsum. Alkoholkonsum bei BAK von unter 1,1 ‰. Cannabiskonsum. THC-Wert von mindestens 1 ng/ml. Kombinierter Konsum von Alkohol und Cannabis. Kein abweichender Grenzwert. Keine wissenschaftlichen Erkenntnisse
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn bei Ausübung einer Verrichtung, die im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht, ein Unfallereignis eintritt, muss vom Vorliegen der Unfallkausalität ausgegangen werden, es sei denn, es ist eine konkurrierende Ursache, wie z.B. eine innere Ursache, eine eingebrachte Gefahr oder der unversicherte Teil bei einer gemischten Tätigkeit feststellbar. Erst wenn eine solche konkurrierende Ursache neben der versicherten Ursache als naturwissenschaftliche Bedingung für das Unfallereignis festgestellt wurde, ist in einem zweiten Prüfungsschritt wertend zu entscheiden, ob die versicherte Ursache wesentlich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung ist.
2. Alkoholgenuss und Drogenkonsum können als Ursachen neben die versicherte Ursache treten und diese zur Gelegenheitsursache werden lassen. Die objektive Beweis- und Feststellungslast hierfür trägt der Unfallversicherungsträger.
3. Bei Alkoholkonsum ist zunächst zu prüfen, ob dieser zu einem Vollrausch (ab 1,1 ‰) geführt hat. Dann wird dessen Wesentlichkeit für den Unfall vermutet. Bei einer relativen Fahruntüchtigkeit muss neben der Blutalkoholkonzentration (BAK) aus weiteren Beweisanzeichen in Form von alkoholtypischen Ausfallerscheinungen darauf geschlossen werden können, dass der Versicherte wegen der Folgen des Alkoholgenusses fahruntüchtig und damit der Alkoholgenuss die überragende Ursache für das Unfallereignis war.
4. Bei Cannabiskonsum kann dieser nur dann als allein wesentliche Ursache des Unfalls angesehen werden, wenn ein THC-Wert von mindestens 1 ng/ml festgestellt wurde und weitere Beweisanzeichen die drogenbedingte Fahruntüchtigkeit des Versicherten – ähnlich wie bei einer relativen Fahruntüchtigkeit mit einer BAK von unter 1,1 ‰ – belegen.
5. Hat der Versicherte sowohl Alkohol als auch andere Drogen konsumiert, so gilt im Fall einer solchen Kombinationswirkung ebenfalls, dass ab einer BAK von 1,1 ‰ von einer absoluten Fahruntüchtigkeit, darunter aber von einer relativen Fahruntüchtigkeit auszugehen ist. Zum Beweis einer drogenbedingten Fahruntüchtigkeit sind also gegenüber der versicherten Ursache überragenden Ursache für den Unfall weitere Beweisanzeichen erforderlich. Denn aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über einen anderen Grenzwert für eine absolute Fahruntüchtigkeit bei der Kombination mehrerer Drogen liegen nicht vor, auch wenn das Unfallrisiko bei einer solchen Kombination dramatisch ansteigt.
Leitsatz (amtlich)
1. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Verrichtung zur Zeit des Unfalls und dem Unfallereignis (Unfallkausalität) ist ausgeschlossen, wenn der Versicherte unter dem Einfluss von Drogen oder anderen die Fahrtüchtigkeit im Straßenverkehr beeinträchtigenden Substanzen stand und deren Wirkung nach den Umständen die allein wesentliche Bedingung für den Unfall war (Bestätigung von BSG vom 27.11.1985- 2 RU 75/84 = BSGE 59, 193 = SozR 2200 § 548 Nr 77).
2. Cannabiskonsum kann als allein wesentliche Ursache eines Kfz-Unfalls angesehen werden, wenn ein THC-Wert von mindestens 1 ng/ml festgestellt wurde und weitere Beweisanzeichen die drogenbedingte Fahruntüchtigkeit belegen.
3. Über davon abweichende Grenzwerte bei einer Kombinationswirkung von Alkohol und Drogen gibt es keine gesicherten Erkenntnisse.
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 12.10.2004; Aktenzeichen L 3 U 37/03) |
SG Augsburg (Urteil vom 16.12.2002; Aktenzeichen S 3 U 2/02) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Oktober 2004 wird zurückgewiesen.
Der Tenor wird wie folgt gefasst: Es wird festgestellt, dass der Unfall des Klägers am 26. Oktober 1999 ein Arbeitsunfall ist.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall.
Der im Jahr 1975 geborene Kläger erlitt am 26. Oktober 1999 gegen 22.50 Uhr auf dem Heimweg von der Spätschicht einen Unfall. Er kam mit seinem Pkw auf der Landstraße L 1167 zwischen Hermaringen und Brenz in einer Rechtskurve mit 2 % Gefälle von der Fahrbahn nach rechts ab, überschlug sich mehrmals und ist seitdem querschnittsgelähmt. Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab, weil die zum Unfallzeitpunkt bestehende alkohol- und drogenbedingte relative Fahruntüchtigkeit des Klägers die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei, andere Ursachen seien nicht feststellbar (Bescheid vom 28. Mai 2001, Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2001).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Dezember 2002). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte verurteilt, seinen Unfall am 26. Oktober 1999 als Arbeitsunfall zu entschädigen (Urteil vom 12. Oktober 2004), und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe sich im Unfallzeitpunkt auf seinem grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 8 Abs 2 Nr 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) stehenden Heimweg von der Arbeit befunden. Der Versicherungsschutz sei nicht entfallen, weil er unter Alkohol- und Drogeneinfluss gestanden habe. Eine alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit werde ab einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,1 ‰ angenommen; diesen Wert habe der Kläger, bei dem von einer BAK von 0,44 ‰ auszugehen sei, nicht erreicht. Einen wissenschaftlich allgemein anerkannten Grenzwert zur Feststellung einer absoluten Fahruntüchtigkeit nach der Einnahme von Cannabis gebe es derzeit nicht. Allenfalls könne von einer relativen Fahruntüchtigkeit ausgegangen werden, wenn – wie hier – die Konzentration am unteren Rand des Bereichs liege, in dem von einer Wirkung ausgegangen werden könne. Aber auch eine relative Fahruntüchtigkeit habe bei dem Kläger nicht vorgelegen. Eine solche sei bei einer BAK von unter 1,1 ‰ anzunehmen, wenn alkoholtypische Ausfallerscheinungen als Beweisanzeichen hinzugekommen seien. Gleiches gelte für eine rauschbedingte relative Fahruntüchtigkeit nach Drogengenuss. Alkoholtypisch seien nur solche Verhaltensweisen, die sich nur durch Alkohol- oder Drogengenuss erklären lassen und bei unter Alkohol- oder Drogeneinfluss fahrenden Personen öfter vorkommen als gewöhnlich. Ein Fehlverhalten oder Fahrfehler lasse nicht den zwingenden Schluss auf alkoholoder drogenbedingte Fahruntüchtigkeit zu, insbesondere wenn es sich um ein Verhalten handele, das bei einer Vielzahl von Verkehrsteilnehmern in vergleichbaren Situationen vorkommen könne. Als alkoholtypische Beweisanzeichen seien anzusehen, das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, Fahren in Schlangenlinien, plötzliches Bremsen, Missachten von Vorfahrtszeichen oder einer roten Ampel. Diese Ausfallerscheinungen müssten zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen.
Beim Kläger seien derartige Ausfallerscheinungen nicht nachgewiesen worden. Er sei ohne Zeichen einer Alkohol- oder Drogeneinwirkung gefahren, wie sein als Zeuge gehörter Arbeitskollege K… bestätigt habe, den der Kläger zunächst nach Hause gebracht habe. Welche Geschwindigkeit der Kläger gefahren und um wie viel er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h überschritten habe, sei nicht feststellbar, weil weder eine Untersuchung der Unfallstelle noch des Unfallfahrzeugs erfolgt sei. Die vom Kläger angegebene Geschwindigkeit von 100 km/h stelle nur eine geringe Geschwindigkeitsüberschreitung dar und kein besonderes alkoholtypisches Verhalten. Es sei eine täglich zu beobachtende Realität, dass auf gut ausgebauten Straßen bei trockener Fahrbahn die Geschwindigkeitsbegrenzung selbst bei Dunkelheit nicht eingehalten werde. Das Abkommen von der Fahrbahn nach rechts in einer Rechtskurve stelle zwar ein Indiz für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit dar, andere Gründe seien jedoch nicht auszuschließen, wie Einschlafen, Unaufmerksamkeit oder Ablenkung. Auch habe sich möglicherweise ein Tier auf der Fahrbahn befunden, zumal im Unfallbereich das Verkehrszeichen Wildwechsel gestanden habe; die Fahrbahn habe Spurrinnen gehabt und sei an dieser Stelle nicht ungefährlich gewesen; schließlich sei mittlerweile die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h herabgesetzt worden. Damit liege kein zusätzliches Beweisanzeichen für eine relative Fahruntüchtigkeit des Klägers vor. Auf den Straßenzustand und das Wetter zum Unfallzeitpunkt komme es nicht an. Den Hilfsanträgen der Beklagten habe es nicht zu folgen brauchen.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie macht geltend, das LSG habe sein Urteil im Wesentlichen damit begründet, dass es eine Fahruntüchtigkeit des Klägers im Unfallzeitpunkt nicht als erwiesen angesehen habe. Mit der Frage der rechtlich wesentlichen Verursachung habe es sich nicht mehr auseinander gesetzt. Das LSG habe jedoch fehlerhafte Anforderungen an den Nachweis der Fahruntüchtigkeit bei Drogeneinwirkung bzw kombinierter Drogen- und Alkoholeinwirkung gestellt. Es habe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit auf die drogenbedingte Fahruntüchtigkeit übertragen, obwohl seitens der im Gerichtsverfahren gehörten Sachverständigen auf die Besonderheiten drogenbedingter Ausfallerscheinungen hingewiesen worden sei. Für Drogen ergebe sich ein gegenüber Alkohol anderes Wirkungsbild, sodass auch andere Anforderungen an die Beweisanzeichen für drogenbedingte Fahruntüchtigkeit zu stellen seien. Ebenso wie das BSG sich für Alkohol an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) orientiere, müsse im Interesse der Rechtseinheit und Rechtssicherheit mit dem BGH auch für die Fahruntüchtigkeit auf ein “rauschmittelbedingtes Leistungsbild” abgestellt werden (Hinweis auf BGH, Urteil vom 3. November 1998 – 4 StR 395/98 – BGHSt 44, 219). Cannabiskonsum führe zu Veränderungen in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinneseindrücken, die mit alkoholbedingten Ausfallerscheinungen nicht gleichzusetzen seien. Koordinationsstörungen in der muskulären Feinmotorik könnten Lenkmanöver beeinträchtigen und Halluzinationen sowie Panikattacken könnten zu unnötigen Ausweichmanövern führen. Diese cannabisbedingten Verhaltensbesonderheiten drängten sich angesichts des vorliegend zu beurteilenden Unfallgeschehens geradezu auf: Das Nichteinhalten der Fahrspur, das fehlerhafte Reagieren in der Verkehrssituation seien gerade durch die vorgenannten drogentypischen Einschränkungen ohne weiteres erklärbar, wie auch die Gutachter ausgeführt hätten.
Wegen des gleichzeitigen Alkohol- und Drogengenusses komme eine deutliche Wirkungsverstärkung hinzu, bei der das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Beschluss vom 20. Juni 2002 (– 1 BvR 2062/96 – NJW 2002, 2378) von einer Aufhebung der Fahrtüchtigkeit ausgegangen sei. Die BAK des Klägers habe mit 0,44 ‰ zwar noch nicht in der Nähe der absoluten Fahruntüchtigkeit gelegen, sei aber durch die nicht unbedeutende Tetrahydrocannabinol- (THC) -Konzentration von 1 ng/ml verstärkt worden.
Die Gründe, warum das LSG dem Hilfsantrag der Beklagten, ein verkehrstechnisches Gutachten einzuholen, nicht gefolgt sei, seien nicht ausreichend, weil das LSG andererseits selbst von einer Gefährlichkeit des Streckenabschnitts ausgegangen sei. Soweit das LSG seine Auffassung, der Kläger habe nicht an Ausfallerscheinungen gelitten, auf die Aussage von dessen Arbeitskollegen K… gestützt habe, werde gerügt, dass es eine Aussage eines Zeugen K… nicht gebe. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast müsse der Kläger als Antragsteller die Nachteile der Ungewissheit über etwaige Wegegefahren tragen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Oktober 2004 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. Dezember 2002 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Im Übrigen hat er seine Klage auf die Anerkennung des Ereignisses vom 26. Oktober 1999 als Arbeitsunfall beschränkt.