BAG Urteil vom 26.03.1992 - 2 AZR 519/91
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Verdachtskündigung liegt nur dann vor, wenn und soweit der Arbeitgeber die Kündigung damit begründet, gerade der Verdacht eines nicht erwiesenen Verhaltens habe das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zerstört (Bestätigung von BAG Urteil vom 3. April 1986 - 2 AZR 324/85 - AP Nr 18 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung).
2. Kündigt der Arbeitgeber nach rechtskräftiger Verurteilung des Arbeitnehmers mit der Begründung, der Arbeitnehmer habe die ihm vorgeworfene Straftat tatsächlich begangen, dann ist die Wirksamkeit der Kündigung in der Regel nicht nach den Grundsätzen der Verdachtskündigung zu beurteilen.
3. Bestreitet der Arbeitnehmer trotz rechtskräftiger Verurteilung weiterhin die Tatbegehung, hat das Arbeitsgericht ohne Bindung an das strafgerichtliche Urteil die erforderlichen Feststellungen selbst zu treffen. Die Ergebnisse des Strafverfahrens können dabei nach den allgemeinen Beweisregeln verwertet werden.
Verfahrensgang
LAG Hamm (Entscheidung vom 24.04.1991; Aktenzeichen 9 Sa 858/90) |
ArbG Münster (Entscheidung vom 27.04.1990; Aktenzeichen 1 Ca 253/90) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.
Der am 26. August 1938 geborene, verheiratete Kläger war seit dem 1. Juli 1973 bei der beklagten Stadt angestellt. Der Kläger ist anerkannter Schwerbehinderter, der Grad der Behinderung beträgt 60 %. Auf das Arbeitsverhältnis fanden die Bestimmungen des Bundes-Angestelltentarifvertrages (BAT) Anwendung.
Bis Juni 1983 war der Kläger als Bauleiter im Tiefbauamt der Beklagten tätig, anschließend wechselte er als Sachbearbeiter in das Hochbauamt. Zu seinen dienstlichen Aufgaben gehörte die eigenverantwortliche Betreuung von Baumaßnahmen, welche die Beklagte durchführen ließ. Hierunter fielen auch Baumaßnahmen an Schulen. In der Zeit von Juli 1985 bis Oktober 1986 hatte er Baumaßnahmen am Städtischen Gymnasium der Beklagten zu betreuen. Hierbei lernte er den dortigen Hausmeister und dessen Familie kennen, wobei es auch zu außerdienstlichen Kontakten kam. Zu der damals sechsjährigen Tochter des Hausmeisters und deren siebenjähriger Freundin S. entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis.
Am 16. Februar 1988 erfuhr der Stadtdirektor der Beklagten durch einen Vermerk des Jugendamtes von dem Verdacht, der Kläger habe im Sommer 1986 an der Tochter des Hausmeisters und deren Freundin strafbare sexuelle Handlungen vorgenommen. Er erstattete daraufhin am selben Tage Strafanzeige gegen den Kläger. Zugleich änderte er dessen Aufgabengebiet dahin ab, daß das Städtische Gymnasium nicht mehr von ihm betreut wurde; andere Schulen blieben in seinem Zuständigkeitsbereich.
Durch Urteil des Landgerichts Münster vom 31. Mai 1989 wurde der Kläger, der die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestritt, wegen sexuellen Mißbrauchs des Mädchens S. gem. § 176 Abs. 1 StGB verurteilt in einem minderschweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Landgericht sah es als erwiesen an, daß der Kläger in zwei Fällen dem Kind unter den Rock gegriffen und ihm mit dem Finger über die mit dem Schlüpfer bedeckte Scheide gerieben hatte. Das Urteil ist zwischenzeitlich rechtskräftig. Über die Vorgänge wurde in der Presse berichtet.
Mit Schreiben vom 8. Juni 1989 teilte die Beklagte dem bei ihr gebildeten Personalrat ihre Absicht mit, das Arbeitsverhältnis des Klägers außerordentlich zu kündigen. Eine Durchschrift des Schreibens übermittelte die Beklagte dem Vertrauensmann der Schwerbehinderten mit der Bitte um Stellungnahme. Dieser bat mit Schreiben vom selben Tage um Zurückstellung der Kündigung bis zur Beendigung des strafrechtlichen Revisionsverfahrens.
Der Personalrat teilte unter dem 9. Juni 1989 mit, er schließe sich der Argumentation der Beklagten an und stimme der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu.
Mit Schreiben vom 9. Juni 1989 beantragte die Beklagte bei der zuständigen Hauptfürsorgestelle die Zustimmung zur Kündigung. Diese wurde mit Bescheid vom 23. Juni 1989 verweigert. Auf den hiergegen gerichteten Widerspruch der Beklagten hat der Widerspruchsausschuß mit Bescheid vom 8. Dezember 1989, der Beklagten zugegangen am 4. Januar 1990, die Zustimmung erteilt. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Klage zum Verwaltungsgericht hat der Kläger später zurückgenommen.
Mit Schreiben vom 4. Januar 1990 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos.
Mit seiner am 25. Januar 1990 erhobenen Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Der Kläger hat die ihm zur Last gelegten Vorfälle bestritten. Er habe die Kinder nicht in der geschilderten Weise berührt. Selbst wenn man die Vorwürfe aber als zutreffend erachte, rechtfertigten sie keine außerordentliche Kündigung. Das ihm zur Last gelegte Verhalten berühre nicht die Kernpflichten des Arbeitsverhältnisses. Es liege im außerdienstlichen Bereich. Ihm sei bei seiner Tätigkeit kein "Schülerwohl" anvertraut. Bei den in Frage stehenden Kindern habe es sich auch nicht um Schüler der betroffenen Schule gehandelt. Auch nach dem für Beamte maßgeblichen Disziplinarrecht werde bei der Würdigung von Straftaten nach dem jeweiligen Zusammenhang zur dienstlichen Tätigkeit oder zum außerdienstlichen Bereich unterschieden.
Zu berücksichtigen sei weiter, daß auch das Landgericht im Strafverfahren von einem minderschweren Fall und davon ausgegangen sei, daß es sich um eine einmalige, persönlichkeitsfremde Entgleisung im unteren Bereich der Relevanz ohne Wiederholungsgefahr gehandelt habe.
Das Ansehen des öffentlichen Dienstes erfordere eine so harte Maßnahme gleichfalls nicht. Die Beklagte habe andere Mittel als eine Beendigungskündigung, um ihren "Standort" öffentlichkeitswirksam bekanntzumachen und gleichzeitig ihrer Fürsorgepflicht zu genügen. So könne sie ihn mit anderen Aufgaben betrauen und auf die Einmaligkeit des Vorfalls, die Langjährigkeit seiner Beschäftigung, sein Lebensalter und darauf hinweisen, daß aufgrund dieser Umstände jedem eine sog. allerletzte Chance zu geben sei. Dabei sei zu berücksichtigen, daß der öffentliche Dienst keinen vom allgemeinen Menschsein gewissermaßen abgekoppelten Werteindex haben dürfe. Ihm gehöre eine Vielzahl normaler Menschen an, die auch "fehlen" könnten.
Es müsse auch berücksichtigt werden, daß er über drei Jahre nach dem streitigen Vorfall seine Dienstpflichten beanstandungsfrei erfüllt habe und dabei auch Baumaßnahmen in Schulen betreut habe. Auch im kollegialen Bereich sei es zu keinerlei Beeinträchtigungen gekommen. Dies gelte auch für die Zeit seiner aufgrund erstinstanzlicher entsprechender Verurteilung der Beklagten erfolgten Weiterbeschäftigung im Tiefbauamt. Über die dabei geleistete Arbeit habe die Presse positiv berichtet, was zeige, daß er ohne Ansehensschädigung weiter im öffentlichen Dienst tätig sein könne.
Der Kläger hat weiter die Auffassung vertreten, die Beklagte habe die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten. Seine Kündigung sei als Verdachtskündigung anzusehen. Unter diesem Gesichtspunkt habe die Beklagte auch das Anhörungsverfahren beim Personalrat eingeleitet. Der Stadtdirektor der Beklagten habe aber selbst am 16. Februar 1988 unter Nennung der Verdachtsmomente Anzeige erhoben. Für einen entsprechenden Verdacht habe spätestens die Anklageschrift alle notwendigen Angaben enthalten.
Der Kläger hat weiter die ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrats bestritten. Angesichts der Tatsache, daß der Personalrat bereits am 9. Juni 1989 auf das Anhörungsschreiben der Beklagten vom 8. Juni geantwortet habe, sei er nicht davon überzeugt, daß der Personalrat - wie erforderlich - über die Angelegenheit einen Beschluß gefaßt habe. Dem habe die Beklagte nachgehen müssen.
Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, daß das zwischen den Parteien
bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die
fristlose Kündigung der Beklagten vom 4. Ja-
nuar 1990 beendet worden ist,
2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger als
Angestellten unter Zahlung der bisherigen BAT--
Vergütung weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sowohl als Verdachts- wie auch als Tatsachenkündigung gerechtfertigt. Sie stütze sich dabei auf das strafgerichtliche Urteil, welches von einer erwiesenen Tat zumindest hinsichtlich des Mädchens S. ausgegangen sei. Durch sein Verhalten habe der Kläger massiv gegen die Vorschrift des § 8 Abs. 1 BAT verstoßen. Diese Regelung erfasse vorrangig das allgemeine Verhalten des Angestellten im öffentlichen Dienst. An dieses sei ein besonders strenger Maßstab zu legen. Es könne als sicher unterstellt werden, daß der dem Kläger zur Last gelegte sexuelle Mißbrauch von Kindern während des Dienstes in der Öffentlichkeit bekannt sei. Es wäre lebensfremd anzunehmen, der Hausmeister des Städtischen Gymnasiums habe nicht von den Vorfällen, die möglicherweise auch seine Tochter betroffen hätten, in der Öffentlichkeit berichtet. Darüber hinaus sei eine große Anzahl von Bediensteten der Beklagten, die mit der Behandlung des Vorfalls betraut gewesen seien, über dessen Tragweite unterrichtet. Schließlich sei das Gerichtsverfahren auch in der Presse bekannt geworden. Es sei daher davon auszugehen, daß der Kläger in der Öffentlichkeit längst identifiziert sei.
Die Kündigung sei aber vor allem auch deshalb begründet, weil die Straftaten des Klägers Rechtsgüter verletzt hätten, die in besonderem Maße zu schützen seien, nämlich die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern und ihre sexuelle Selbstbestimmung. Es handele sich hier nicht um einen Bereich der Kavaliersdelikte. Das gezeigte Verhalten sei vielmehr als besonders verwerflich anzusehen und rechtfertige den Schluß auf die völlige charakterliche Ungeeignetheit des Klägers. Er habe seine Verpflichtung, für das Wohl der Allgemeinheit tätig zu werden, schwerwiegend verletzt. Es könne der Allgemeinheit daher auch nicht angesonnen werden, ihn weiterhin als öffentlichen Bediensteten zu ertragen und zu bezahlen.
Beamtenrechtliche Bestimmungen oder die zum Disziplinarrecht ergangene Rechtsprechung könnten nicht herangezogen werden. Angestelltenverhältnis und Beamtenverhältnis unterschieden sich grundsätzlich. Es könne auch nicht darauf abgestellt werden, das Ansehen des Klägers und das des öffentlichen Dienstes könnten allmählich durch Zeitablauf wiederhergestellt werden. Dagegen spreche schon, daß es für die Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung auf den Zeitpunkt ihres Ausspruchs ankomme. Angesichts der Verwerflichkeit der Tat könne auch zugunsten des Klägers nicht berücksichtigt werden, daß er erst einmal straffällig geworden sei. Dies gelte um so mehr, als er nach den Feststellungen des Landgerichts zweimal sexuelle Manipulationen an dem betroffenen Mädchen vorgenommen habe. Das spreche auch dafür, daß er die Hausmeistertochter ebenfalls belästigt habe und eine Wiederholung der Tat nicht ausgeschlossen sei. Ebensowenig könne davon ausgegangen werden, daß der Kläger nicht noch einmal in ein Dauerarbeitsverhältnis vermittelt werden könne.
Das Arbeitsgericht hat die Kündigung für unwirksam befunden und die Beklagte zur vorläufigen Weiterbeschäftigung des Klägers verurteilt. Dem ist die Beklagte nachgekommen und hat den Kläger im Tiefbauamt eingesetzt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.