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BAG Urteil vom 20.12.1984 - 2 AZR 436/83

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung wegen Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen

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Leitsatz (redaktionell)

1. Bei verfassungskonformer Auslegung des § 315 BGB darf der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer keine Arbeit zuweisen, die den Arbeitnehmer in einen vermeidbaren Gewissens- konflikt bringt.

2. Inhalt und Grenzen des Leistungsbestimmungsrechts (Direktionsrecht) des Arbeitgebers zur Konkretisierung der vertragsgemäßen Arbeitsleistung ergeben sich aus einer Abwägung der beiderseitigen Interessen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob der Arbeitnehmer bei der Eingehung des Arbeitsverhältnisses mit einem Gewissenskonflikt hat rechnen müssen, ob der Arbeitgeber aus betrieblichen Erfordernissen auf dieser Arbeitsleistung bestehen muß, ob dem Arbeitnehmer andere Arbeit zugewiesen werden kann und ob mit zahlreichen weiteren Gewissenskonflikten in der Zukunft zu rechnen ist.

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Orientierungssatz

1. Gewissen im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs und des Art 4 GG ist als ein real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind.

2. Als Gewissensentscheidung ist jede ernste sittliche dh an den Kategorien von "gut" und "böse" orientierte Entscheidung anzusehen, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.

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Normenkette

BGB §§ 134, 138, 242, 611; StGB §§ 86, 131; GG Art. 4 Abs. 1; JgefSchrG §§ 3-6; BGB § 315 Abs. 1; KSchG § 1 i.d.F des Gesetzes vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1476)

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Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 06.01.1983; Aktenzeichen 2 (3) Sa 353/82)

ArbG Elmshorn (Entscheidung vom 11.05.1982; Aktenzeichen 3 a Ca 2075/81)

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Tatbestand

Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 17. März 1980 als Drucker zu einem monatlichen Arbeitsentgelt von zuletzt 3.300,-- DM beschäftigt. Der Kläger ist anerkannter Kriegsdienstverweigerer und seit 1974 aktives Mitglied der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - VVN - Bund der Antifaschisten", wobei er das Amt des Vorsitzenden der Ortsgruppe P bekleidet und sowohl dem Präsidium des VVN auf Bundesebene als auch dem Geschäftsführenden Vorstand des Landesverbandes Schleswig- Holstein e.V. angehört.

Am 2. November 1981 erhielt der Kläger den Auftrag, Prospekte des Verlages für geschichtliche Dokumentation zu drucken, mit denen für den Kauf von zwei Buchpaketen mit jeweils sechs Büchern über das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg geworben wurde. Nachdem der Kläger die Ausführung dieses Auftrages verweigert hatte, fand zwischen dem Kläger, dem technischen Leiter des Gesamtbetriebes und zwei Abteilungsleitern ein Gespräch statt. Dem Kläger wurde erklärt, daß die aus seinem Verhalten zu ziehenden Folgerungen geprüft würden, er jedoch schon bei einer überschlägigen Beurteilung wohl mit Konsequenzen zu rechnen habe, wenn er seine Haltung nicht ändere. Danach wurde der Kläger für den Rest der Schicht an eine andere Druckmaschine gestellt. Am 3. November 1981 erhielt der Kläger den Auftrag, folgenden Werbebrief des Dr. Christian Z zu drucken:

"Lieber Leser,

Weihnachten in Moskau ... fast auf den Tag ist es jetzt

40 Jahre her, daß deutsche Soldaten zum Sturm auf die

russische Metropole ansetzten. Nach einem 2000 km langen

unaufhaltsamen Siegeszug, der alles Vorangegangene über-

traf, nach den gewaltigen Kesselschlachten von Roslawl,

Uman und Kiew, denken die Soldaten nur noch an eines -

Moskau so schnell wie möglich zu nehmen] Für sie bedeutet

der Fall der Hauptstadt das Ende des Krieges.

Weihnachten in Moskau ... am 4. Dezember erreichen die

deutschen Spitzen den Stadtrand. Sie stehen an der Halte-

stelle der Moskauer Straßenbahn. Einer von ihnen ist der

Frontarzt Dr. Heinrich Haape. Er ist schon am 22. Juni

1941 dabei gewesen, als sich drei Millionen deutscher

Soldaten zum größten Schicksalskampf des Zweiten Welt-

krieges fertigmachen: dem Unternehmen Barbarossa.

An diesem Tag beginnen seine Aufzeichnungen, die heute zu

den ganz großen zeitgeschichtlichen Dokumentationen zählen.

Wer damals dabei war, wird Haapes Buch nicht ohne Bewegung

lesen. Die Geschichte des Autors ist die Geschichte des

Krieges in Rußland schlechthin: ja, so ist es gewesen] Der

Text wurde gedruckt, wie er geschrieben wurde - ohne Fuß-

noten, ohne nachträglichen Kommentar, unmittelbar aus dem

eigenen Erleben heraus, aus der Perspektive des Frontsol-

daten.

Ich habe dieses Buch zum Leitmotiv meiner diesjährigen

Buchauswahl bestimmt, mit der ich Ihnen, liebe Leser,

wiederum einige Empfehlungen für ihre eigene geschicht-

liche Bibliothek geben möchte. Wie bereits im Vorjahr,

werden Sie auch diesmal wieder alle Bände zu außerordent-

lich günstigen Preisen erwerben können.

Auch meine zweite Buchempfehlung ist ein Erlebnisbe-

richt: Jeder Name, jeder Ort, jede Einzelheit ist echt,

alle Geschehnisse sind wahrhaftig und aus erster Hand,

gesehen mit den Augen des Jahres 1945. Hans Schäufler

war einer der "Soldaten der letzten Stunde", die unter

Einsatz von Leben und Freiheit das große deutsche Ret-

tungswerk möglich gemacht haben: die Flucht der Milli-

onen Frauen und Kinder vor der heranstürmenden Roten

Armee.

Ebenso authentisch ist das Buch von Werner Baumbach,

jenes Fliegers aus Begeisterung und Hingabe, der zum er-

folgreichsten Bomberpilot des Zweiten Weltkrieges wurde.

Baumbach schreibt aus der Fülle des Erlebens und der Er-

fahrung: Wie nur wenige kannte er die Entwicklung vom

Werden bis zum Fall der Luftwaffe, wußte er um die Füh-

rung des deutschen Luftkrieges und seine Hintergründe.

Einsatz und Erfolg der Kampfflieger war immer aber auch

eine Gemeinschaftsleistung von Besatzung, Staffel und

Verband. "Klotzen, nicht kleckern", hieß die Devise -

und so lange die Luftwaffe das realisieren konnte, war

ihr der Erfolg treu. Einige Kampfflieger haben mit Kön-

nen, Geschick und Glück bis zu 400, 500 ja 600 Einsätze

geflogen. Sie waren die Asse dieser Waffe. Von ihnen

berichtet mein dritter Auswahlband.

Ich habe noch ein weiteres Buch über die deutsche Luft-

waffe gefunden, das mich außerordentlich fesselte. Es

ist die Geschichte der Me 262, des ersten Düsenjägers

der Welt. Wäre mit ihr die feindliche Luftherrschaft

noch zu brechen gewesen, wenn Hitler nicht darauf be-

standen hätte, sie als "Blitzbomber" ohne jede Aussicht

auf Erfolg einzusetzen? Dieses Buch können Sie wahl-

weise anstelle der Baumbach-Memoiren beziehen.

Exklusiv für dieses Buchpaket wurde ein imponierender

zeitgenössischer Bildband über das kühnste Luftlande-

unternehmen der Kriegsgeschichte produziert. Über 300

Bilder zeugen von den unglaublichen Leistungen, mit

denen deutsche Fallschirmjäger auf Kreta ihren erstaun-

lichen Sieg über die britischen und griechischen Ver-

teidiger der Insel erzielten.

Ein zweiter großer Bildband gefiel mir, weil er endlich

denen ein Denkmal setzt, die kaum jemals in einem Wehr-

machtsbericht erwähnt wurden - und doch den Zweiten

Weltkrieg ganz entscheidend mitbestimmten: Die drei

Millionen Pferde, die mit den Landsern "litten, starben"

und Aufgaben lösten, die für Motoren unlösbar waren.

6 Bände - und ein 7. zur Auswahl - die Sie, lieber Leser,

wieder zehn Tage lang zuhause in aller Ruhe und ohne jede

Kaufverpflichtung prüfen können.

Ich war wiederum bemüht, Ihnen den Erwerb dieses Buchpa-

ketes so günstig wie möglich zu machen. Sie sparen jetzt

über DM 80,--, denn das ganze Paket mit mehr als 2.000

Seiten und 800 Bildern kostet Sie statt DM 215,-- nur

DM 128,--.

Außerdem bekommen Sie als Geschenk mit Ihrer unverbindli-

chen Anforderung des Buchpaketes die nirgendwo sonst er-

hältliche Dokumentar-Schallplatte "Weihnachten an der

Front". Sie können sie auf jeden Fall behalten, also auch,

wenn Sie das Buchpaket auf unsere Kosten zurückschicken

sollten.

Denken Sie auch daran: Dieses Buchpaket ist ein außer-

ordentlich repräsentatives Weihnachtsgeschenk. Ein Ge-

schenk, das ich für Sie exklusiv zusammengestellt habe.

Mit den besten Wünschen

für ein schönes Weihnachtsfest und gutes Neues Jahr

bin ich

Ihr sehr ergebener

Dr. Christian Z

P.S. Uns stehen noch einige wenige Buchpakete aus dem

Vorjahr zur Verfügung. Schnellentschlossenen Samm-

lern können wir daher die Möglichkeit bieten, zu-

sammen mit dem jetzigen auch noch das erste Buch-

paket zu erwerben: 12 Bücher zum einmaligen Sonder-

preis von nur DM 198,--."

Der Kläger verweigerte die Ausführung dieses Auftrages. Daraufhin leitete die Beklagte das Anhörungsverfahren gemäß § 102 BetrVG ein. Der Betriebsrat der Beklagten widersprach durch Beschluß vom 5. November 1981 sowohl einer fristlosen als auch einer fristgerechten Kündigung des Klägers mit folgender schriftlicher Begründung vom 7. November 1981:

1. Da am Montag eine Regelung gefunden wurde, Koll.

S von M 5 zu M 1 im Tausch mit Koll.

M , wäre es bei gutem Willen der Geschäftsl.

auch am Dienstag möglich gewesen. Der Koll.

S war dazu bereit, nochmals zu wechseln.

2. Koll. S hat seine Arbeitsbereitschaft

gegenüber der Geschäftsl. ausgesprochen, an je-

der anderen Maschine zu drucken, M 1 stand.

3. Der Auftrag vom John-Jahr-Verlag wäre am Dienstag

in der Spätschicht abends ausgedruckt gewesen,

der Koll. S hätte am Mittwoch an der M 5

laut Schichtplan weiter arbeiten können, wo er auch

für die Woche eingeteilt war.

Mit Schreiben vom 5. November 1981 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos sowie vorsorglich fristgemäß zum 20. November 1981.

Mit seiner am 10. November 1981 beim Arbeitsgericht eingegangenen Feststellungsklage hat der Kläger sich gegen beide Kündigungen gewehrt.

Er hat vorgetragen, sowohl die angebotenen Bücher wie auch die Prospekte und der Werbebrief für diese Bücher seien kriegsverherrlichend und hätten nationalsozialistischen Charakter. Der Inhalt der Bücher sei ihm am 3. November 1981 teilweise bekannt gewesen. Durch die Werbung für diese Bücher werde § 86 StGB erfüllt sowie die Voraussetzungen des § 6 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften. Ihm sei auch bekannt, daß der John-Jahr-Verlag bzw. der diesem eng verbundene Verlag für geschichtliche Dokumentation regelmäßig den Krieg oder den Nationalsozialismus verherrlichende Veröffentlichungen herausbringe, die teilweise von der Bundesprüfstelle indiziert worden seien. Ihm habe zudem aus Art. 4 GG in Verbindung mit § 242 BGB ein Leistungsverweigerungsrecht zugestanden. Als Mitglied und Ortsgruppenvorsitzender der VVN und als anerkannter Wehrdienstverweigerer sei der Druckauftrag für ihn besonders belastend und mit seinem Gewissen unvereinbar gewesen. Der Beklagten sei seine Mitgliedschaft in der VVN und seine Eigenschaft als anerkannter Kriegsdienstverweigerer auch bekannt gewesen. Hinzu komme, daß er sich § 4 Ziff. 4 der Satzung der IG Druck und Papier, deren Mitglied er ebenfalls sei, stark verpflichtet fühle, wonach faschistische, militaristische und reaktionäre Einflüsse und alle sonstigen antidemokratischen Bestrebungen zu bekämpfen seien. Er habe die Gründe seiner Arbeitsverweigerung der Beklagten am 2. und 3. November 1981 ausführlich dargelegt. Für die Beklagte habe am 3. November 1981 auch die Möglichkeit bestanden, ihn an eine andere der fünf Druckmaschinen umzusetzen. Während seiner Betriebszugehörigkeit seien bei der Beklagten keine Aufträge ähnlichen Inhaltes bis zu diesem Zeitpunkt angefallen. Aufträge gleicher oder ähnlicher Art seien auch nicht in Sicht gewesen.

Der Kläger hat beantragt festzustellen, daß weder durch die fristlose Kündigung vom 5. November 1981 noch durch die fristgemäße Kündigung vom 5. November 1981 zum 20. November 1981 das Arbeitsverhältnis aufgelöst worden ist, sondern zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, sie identifiziere sich zwar nicht mit dem Inhalt der Prospekte und des Werbebriefes, sehe jedoch keinen Anlaß, diese nicht zu drucken, da deren Inhalt nicht verboten sei. Die Mitgliedschaft des Klägers in der VVN sowie dessen Eigenschaft als Kriegsdienstverweigerer seien ihr bei Abschluß des Arbeitsvertrages mit dem Kläger nicht bekannt gewesen. Auch könnten die Drucker innerhalb der einzelnen Druckmaschinen nicht ohne Nachteile ausgetauscht werden. Sie setze in ihrem Betrieb Druckmaschinen verschiedener Größe und verschiedenen Typs ein. Jeder Drucker werde einer bestimmten Maschine zugeordnet, die sozusagen seine Maschine werde. Diese Verfahrensweise habe den Vorteil einer gleichbleibenden Produktivität der Maschine.

Das Arbeitsgericht hat die fristlose Kündigung als rechtsunwirksam, die fristgerechte Kündigung jedoch als rechtswirksam angesehen. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt.

In der Berufungsinstanz hat der Kläger die Ansicht vertreten, ihm stehe für den Fall, daß er seinen persönlichen Gewissenskonflikt, der der Beklagten bekannt gewesen sei, am 2. und 3. November 1981 nicht genügend deutlich gemacht habe, jedenfalls ein Anspruch auf Wiedereinstellung zu.

Er hat beantragt,

unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten das

angefochtene Urteil abzuändern und festzustellen, daß

das Arbeitsverhältnis des Klägers weder durch die

fristlose noch durch die fristgemäße Kündigung der

Beklagten vom 5. November 1981 aufgelöst worden ist,

hilfsweise,

die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu den bis-

herigen Arbeitsbedingungen neu einzustellen.

Die Beklagte hat in der Berufungsinstanz beantragt,

unter Zurückweisung der Berufung des Klägers das

Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 11. Mai

1982 abzuändern und die Klage in vollem Umfang

abzuweisen,

hilfsweise,

das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfin-

dung aufzulösen.

Sie hat den hilfsweise gestellten Auflösungsantrag damit begründet, durch vom Kläger veranlaßte Schreiben von Mitgliedern der VVN und die vom Kläger veranlaßte Publizität des Verfahrens sei sie unter Druck gesetzt worden. Dem Kläger gehe es im wesentlichen um eine öffentlichkeitswirksame Darstellung seiner politischen Ansichten und er habe zumindest anklingen lassen, daß auch sie, die Beklagte, durch ihr Verhalten zu den Verteidigern von Militarismus und Faschismus gehöre. Daher sei eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht mehr möglich.

Das Landesarbeitsgericht hat die Berufungen beider Parteien zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat der erkennende Senat die Revision gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts durch Beschluß vom 14. Juli 1983 - 2 AZN 81/83 - zugelassen.

Mit der Revision verfolgt der Kläger die Feststellung, daß sein Arbeitsverhältnis auch nicht durch die fristgemäße Kündigung der Beklagten vom 5. November 1981 aufgelöst worden ist, weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.