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BAG Urteil vom 21.06.2012 - 8 AZR 243/11

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsübergang

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Leitsatz (redaktionell)

Werden ca. 60 % der in einem IT-Service-Betrieb beschäftigten IT-Servicetechniker, EDV-Servicemitarbeiter und Führungskräfte durch einen Erwerber weiterbeschäftigt, kann von einem Betriebsübergang ausgegangen werden.

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Normenkette

BGB § 613a

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Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 09.02.2011; Aktenzeichen 19 Sa 72/10)

ArbG Mannheim (Urteil vom 12.05.2010; Aktenzeichen 11 Ca 504/09)

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Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg – Kammern Mannheim – vom 9. Februar 2011 – 19 Sa 72/10 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

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Tatbestand

Rz. 1

 Die Parteien streiten noch darüber, ob die Beklagte zu 2. (im Folgenden nur: Beklagte) verpflichtet ist, den Kläger weiterzubeschäftigen, weil dessen Arbeitsverhältnis im Wege eines Betriebsübergangs auf sie übergegangen ist.

Rz. 2

 Das zum 1. September 1984 mit der B… AG begründete Arbeitsverhältnis des Klägers war nach mehreren Betriebsübergängen auf die C… S… GmbH (im Folgenden: Insolvenzschuldnerin) übergegangen. Zuletzt war er dort als Servicemitarbeiter beschäftigt. Die Insolvenzschuldnerin war im Jahre 2003 als hundertprozentige Tochter aus der C… D… GmbH (CDG) ausgegliedert worden. Ihr Hauptbetätigungsfeld war die Installation und Wartung von EDV-Produkten (Hard- und Software). Sie unterhielt hierfür bundesweit zehn Standorte und beschäftigte zuletzt 80 Arbeitnehmer. Etwa 90 % der Serviceleistungen erbrachte sie aufgrund eines Dienstleistungsvertrags mit der Muttergesellschaft, der CDG, gegenüber deren Kunden. Die Insolvenzschuldnerin hatte die Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung. Bis zum 31. Mai 2009 überließ sie acht ihrer Mitarbeiter, ua. den Kläger, der I…-Tochter i zur Druckerstraßenwartung. Vier Arbeitnehmer waren anderweitig zur Druckerwartung eingesetzt. Nachdem der Überlassungsvertrag mit i zum 31. Mai 2009 ausgelaufen war, setzte die Insolvenzschuldnerin den Kläger in ihrem “Service Dispatch Center” ein, wo er Serviceanforderungen der Kunden entgegennahm und an die Servicetechniker weiterleitete.

Rz. 3

 Am 1. Oktober 2009 war über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Zum Insolvenzverwalter wurde der ursprüngliche Beklagte zu 1. (im Folgenden nur: Insolvenzverwalter) bestellt. Am selben Tage wurde über das Vermögen der CDG das Insolvenzverfahren eröffnet und Rechtsanwalt S… zum Insolvenzverwalter bestellt.

Rz. 4

 Am 18. September 2009 vereinbarten der Insolvenzverwalter und der vorläufige Insolvenzverwalter der CDG mit der Beklagten, die seinerzeit als A… I… firmierte, die Übertragung der Service- und Wartungsverträge sowie der zu deren Durchführung erforderlichen Teile (Ersatzteillager, Werkzeuge, PCs, Laptops, Büroausstattung) mit Wirkung zum 5. Oktober 2009. Außerdem verpflichtete sich die Beklagte, 56 Arbeitnehmern der Insolvenzschuldnerin Arbeitsverträge anzubieten. Die Beklagte bezahlte für die beweglichen Wirtschaftsgüter der Insolvenzschuldnerin 499.800,00 Euro und für deren eigenen Kundenstamm 47.600,00 Euro. Für den Kundenstamm (Service- und Wartungsverträge) der Muttergesellschaft wurden 476.000,00 Euro vergütet. Entsprechend dem Erwerberkonzept wurde ausdrücklich der Bereich “Druck” ausgenommen, in welchem die Beklagte weder Serviceleistungen noch Arbeitnehmerüberlassung erbringen wollte. In Ziff. 11 der Vereinbarung zwischen dem Insolvenzverwalter und der A… I…, der jetzigen Beklagten, vom 18. September 2009 heißt es ua.:

“Die Vertragsparteien sind sich ausdrücklich darüber einig, dass es sich bei dem Betriebsteil ‘Druck’ um einen eigenständigen Betriebsteil handelt, von denen (richtig wohl: dem) keine Wirtschaftsgüter und auch keinerlei Vertragsbeziehungen zu Kunden der Schuldnerin übernommen werden. Die Arbeitnehmer, die dem Betriebsteil ‘Druck’ zuzuordnen sind, ergeben sich aus der Anlage 3b. Der Erwerber hat keinen Willen, diese Arbeitnehmer zu übernehmen.”

Rz. 5

 Der Kläger ist in der Anlage 3b namentlich aufgeführt.

Rz. 6

 Am 1. Oktober 2009 war mit dem Betriebsrat der Insolvenzschuldnerin ein Interessenausgleich und Sozialplan vereinbart sowie eine Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur in M… abgegeben worden. Im Nachgang hierzu sprach der Insolvenzverwalter gegenüber sämtlichen Arbeitnehmern der Insolvenzschuldnerin, mit Ausnahme eines Arbeitnehmers, zu dessen Kündigung die Zustimmung des Integrationsamts erforderlich war, die Kündigung der Arbeitsverhältnisse zum 31. Januar 2010 aus. Am 1. Oktober 2009 kündigte der Insolvenzverwalter auch die von der Insolvenzschuldnerin eingegangenen Mietverhältnisse über Büroräume. Am 6. Oktober 2009 wurde der Rahmenvertrag mit der Firma E… GmbH gekündigt, die das Ersatzteillager der Insolvenzschuldnerin gemanagt hatte. Der Kläger wurde ab 5. Oktober 2009 unwiderruflich von seiner Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt. Seit diesem Tag erbringt die Insolvenzschuldnerin keine Service- und Wartungsleistungen mehr. Mindestens 50 Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin, überwiegend Servicetechniker, nahmen das Beschäftigungsangebot der Beklagten an und betreuten seitdem den Servicebereich von den bisherigen Standorten aus. Übernommen wurden auch das Führungspersonal (Abteilungsleiter des kaufmännischen Bereichs, Leiter der Technik, sämtliche Gruppenleiter). Der Mitgeschäftsführer der Beklagten Dr. V… war auch Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin.

Rz. 7

 Der Kläger erhielt von der Beklagten kein Angebot zur Weiterbeschäftigung.

Rz. 8

 Er hält die vom Insolvenzverwalter ausgesprochene Kündigung ua. deshalb für unwirksam, weil dieser den Betrieb nicht stillgelegt, sondern an die Beklagte veräußert habe.

Rz. 9

 Weiter trägt er vor, die Beklagte habe von der Insolvenzschuldnerin die Erbringung von Dienstleistungen an Computersystemen Dritter unverändert übernommen. Weder der Arbeitsinhalt noch die Organisation hätten sich geändert. Die gekauften sächlichen Betriebsmittel, insbesondere das Ersatzteillager, seien bezogen auf die Dienstleistungstätigkeit auch von entsprechend hoher Bedeutung. Die Beklagte habe nicht nur den nach Sachkunde wesentlichen Teil der Belegschaft übernommen, sondern sei auch in die Wartungsverträge der Insolvenzschuldnerin sowie die der Muttergesellschaft eingetreten.

Rz. 10

 Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht beantragt,

1. es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die Kündigung des Insolvenzverwalters vom 1. Oktober 2009 zum 31. Januar 2010 nicht aufgelöst wird,

2. die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu den zuletzt zwischen dem Kläger und dem Insolvenzverwalter geltenden Arbeitsvertragsbedingungen als EDV-Servicemitarbeiter im Second Level Support weiterzubeschäftigen.

Rz. 11

 Die Beklagte und der Insolvenzverwalter haben Klageabweisung beantragt. Der Insolvenzverwalter hat die Kündigung wegen der Betriebsstilllegung für sozial gerechtfertigt gehalten und ebenso wie die Beklagte einen Betriebsübergang bestritten, weil mit der Insolvenz der Muttergesellschaft aus wirtschaftlicher Sicht eine Fortführung des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin nicht mehr in Betracht gekommen sei. Die Identität des Betriebs der Insolvenzschuldnerin sei nicht erhalten geblieben, weil der Betriebszweck – Serviceleistungen an Dritte aufgrund eines Dienstvertrags mit der Muttergesellschaft – mit der Insolvenz der Mutter entfallen sei. Insbesondere müsse die Beklagte nun selbst Kunden akquirieren, halten und auf den Abschluss von neuen Geschäften hinwirken. Dass Teile des Ersatzteillagers mit Ausnahme des Bereichs “Druck” erworben worden seien, führe ebenso wenig zu einem Betriebsübergang wie die Option, in die Wartungsverträge der Insolvenzschuldnerin (10 % des Umsatzes) einzutreten. Selbst wenn man von einem Betriebsübergang auszugehen habe, sei der Bereich “Druck”, der einen Betriebsteil oder eigenständigen Bereich darstelle, mindestens aber der Bereich “Arbeitnehmerüberlassung im Druckerservice”, dem der Kläger angehört habe, als abgrenzbarer Betriebsteil nicht übergegangen. Durch die Insolvenz des Hauptauftraggebers seien die Voraussetzungen für eine Betriebsstilllegung gegeben gewesen, weil sich der Betriebszweck und infolgedessen auch die Organisations- und Führungsstruktur geändert habe. Die Übernahme von beweglichen Wirtschaftsgütern und eines Teils der früheren Belegschaft sei demgegenüber nicht prägend gewesen, weil die Beklagte wesentliche Betriebsmittel (EDV-System, Telefonanlage, Internetauftritt, Fuhrpark, Softwarelizenzen, LAN/WAN-Anbindung) neu habe beschaffen bzw. gestalten müssen. Dass die Beklagte durch Vertrag vom 18. September 2009 die Option erworben habe, in die Kundenbeziehungen der Muttergesellschaft einzutreten, führe nicht zu einem Betriebsübergang. Von 448 Kunden der CDG seien per Februar 2010 lediglich 96 zu der Beklagten gewechselt, davon nur 25 durch Vertragseintritt. Insbesondere der Bereich “Arbeitnehmerüberlassung/Druckerservice” sei nicht übergegangen. Die Beklagte betreibe nämlich keine Druckerwartung. Dieser Bereich sei nicht zum 31. Mai 2009 stillgelegt worden. Man habe weiterhin entsprechende Aufträge annehmen wollen.

Rz. 12

 Mit Schriftsatz vom 9. Oktober 2009 hat der Kläger der B… den Streit verkündet, weil diese als seine ehemalige Arbeitgeberin ihm ein Rückkehrrecht garantiert habe, wenn eine Weiterbeschäftigung innerhalb des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin aus betrieblichen Gründen nicht mehr möglich sei. Die B… ist mit Schriftsatz vom 20. November 2009 dem Rechtsstreit auf Seiten des Klägers beigetreten, hat sich dann aber am Rechtsstreit nicht weiter beteiligt. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufungen der Beklagten und des Insolvenzverwalters hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Insolvenzverwalter (ursprünglicher Beklagter zu 1.) hat keine Revision eingelegt.