BAG Urteil vom 15.12.2011 - 2 AZR 42/10
Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialauswahl. Altersgruppen. Altersdiskriminierung. Betriebsbedingte Kündigung. Interessenausgleich mit Namensliste. Darlegungslast. Beschäftigung von Leiharbeitnehmern. Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf “freiem” Arbeitsplatz. soziale Auswahl. grobe Fehlerhaftigkeit. auswahlrelevanter Personenkreis. Bildung von Altersgruppen
Leitsatz (amtlich)
Die gesetzliche Vorgabe in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG, das Lebensalter als eines von mehreren Kriterien bei der Sozialauswahl zu berücksichtigen, und die durch § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG eröffnete Möglichkeit, die Auswahl zum Zweck der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur innerhalb von Altersgruppen vorzunehmen, verstoßen nicht gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und dessen Ausgestaltung durch die Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000.
Orientierungssatz
1. Die Vermutung der Betriebsbedingtheit der Kündigung in § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG erstreckt sich nicht nur auf den Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten im bisherigen Arbeitsbereich des Arbeitnehmers, sondern auch auf das Fehlen der Möglichkeit, diesen anderweitig einzusetzen.
2. Ob die Beschäftigung von Leiharbeitnehmern die Annahme rechtfertigt, im Betrieb oder Unternehmen des Arbeitgebers seien “freie” Arbeitsplätze vorhanden, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Werden Leiharbeitnehmer lediglich zur Abdeckung von “Auftragsspitzen” eingesetzt, liegt darin keine alternative Beschäftigungsmöglichkeit iSv. § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG. Der Arbeitgeber kann in einem solchen Fall typischerweise nicht davon ausgehen, dass er für die Auftragsabwicklung dauerhaft Personal benötige. An einem “freien” Arbeitsplatz fehlt es in der Regel außerdem, wenn der Arbeitgeber Leiharbeitnehmer als “Personalreserve” zur Abdeckung von Vertretungsbedarf beschäftigt.
3. Der gesetzliche Regelungskomplex der Sozialauswahl verstößt nicht gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und dessen Ausgestaltung durch die Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000. Die Berücksichtigung des Lebensalters bei der sozialen Auswahl führt zwar in der Tendenz zu einer Bevorzugung älterer und damit zugleich zu einer Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer. Durch die von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG im Interesse der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur ermöglichte Bildung von Altersgruppen wird aber die andernfalls linear ansteigende Gewichtung des Lebensalters unterbrochen und zugunsten jüngerer Arbeitnehmer relativiert. Beides ist durch rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik und Arbeitsmarkt iSv. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1, Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie gerechtfertigt. Das Ziel, ältere Arbeitnehmer zu schützen, und das Ziel, die berufliche Eingliederung jüngerer Arbeitnehmer sicherzustellen, werden zu einem angemessenen Ausgleich gebracht. Dies dient zugleich der sozialpolitisch erwünschten Generationengerechtigkeit und der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung. Außerdem hindert die Altersgruppenbildung sowohl zugunsten einer angemessenen Verteilung der Berufschancen jüngerer und älterer Arbeitnehmer als auch im Interesse der Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, dass eine Vielzahl von Personen gleichen Alters zur gleichen Zeit auf den Arbeitsmarkt drängt.
4. Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber in § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG die Bildung von Altersgruppen nicht zwingend vorschreibt, sondern sowohl hinsichtlich des “Ob” als auch des “Wie” der Gruppenbildung dem Arbeitgeber – ggf. gemeinsam mit dem Betriebsrat – einen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum einräumt. Inwieweit Kündigungen Auswirkungen auf die Altersstruktur des Betriebs haben und welche Nachteile sich daraus ergeben, hängt von den betrieblichen Verhältnissen ab und kann nicht abstrakt für alle denkbaren Fälle beschrieben werden.
5. Der Arbeitgeber, der sich auf § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG berufen will, muss zu diesen Auswirkungen der Kündigungen und möglichen Nachteilen konkret vortragen. Jedenfalls wenn die Anzahl der Entlassungen innerhalb einer Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer im Verhältnis zur Anzahl aller Arbeitnehmer des Betriebs die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreicht, kommen ihm dabei Erleichterungen zugute; bei einer solchen Sachlage ist ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Beibehaltung der Altersstruktur – widerlegbar – indiziert.
6. Eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV bedurfte es nicht. Das für die Beurteilung der Vereinbarkeit des Regelungskomplexes der Sozialauswahl mit Unionsrecht maßgebliche Verständnis von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG ist durch die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt.
Verfahrensgang
LAG Köln (Urteil vom 14.08.2009; Aktenzeichen 11 Sa 320/09) |
ArbG Bonn (Urteil vom 07.01.2009; Aktenzeichen 2 Ca 1849/08 EU) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 14. August 2009 – 11 Sa 320/09 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf betriebliche Gründe gestützten Kündigung.
Rz. 2
Die im Dezember 1971 geborene Klägerin war seit August 1999 bei der Beklagten als Produktionsmitarbeiterin tätig.
Rz. 3
Die Beklagte stellt Tiernahrung her. In ihrem Werk E… beschäftigte sie zu Mitte des Jahres 2008 242 Mitarbeiter, davon 168 gewerbliche Arbeitnehmer im Rahmen der Produktion und einige mehr in der Werkstatt, im Lagerbereich sowie in der Qualitätsprüfung.
Rz. 4
Im Juli 2008 beschloss die Beklagte, im Produktionsbereich 31 Stellen abzubauen. Am 24. Juli 2008 vereinbarte sie mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, einen Sozialplan und eine “Auswahlrichtlinie gem. § 95 BetrVG”. Die Namensliste enthält die Namen von 31 zu kündigenden Arbeitnehmern, darunter den der Klägerin. Nach § 1 des Interessensausgleichs beruht der Wegfall der Arbeitsplätze auf einer “Linienoptimierung” in verschiedenen Bereichen der Produktion – dies betrifft elf Mitarbeiter –, auf einer “Maschinenlaufzeitreduzierung” aufgrund einer “Volumenreduzierung im Trockenbereich” – dies betrifft acht Mitarbeiter – und auf dem Wegfall zweier Produkte, womit die Stilllegung zweier Maschinen und die “Volumenreduktion” einer weiteren Maschine begründet wird – dies betrifft zwölf Arbeitnehmer.
Rz. 5
Gemäß Nr. 2 der Auswahlrichtlinie ist die soziale Auswahl in mehreren Stufen zu vollziehen. Zunächst ist eine Vergleichsgruppenbildung vorzunehmen. Insoweit verständigten sich die Betriebsparteien darüber, dass “alle gewerblichen Arbeitnehmer im Sinne der Sozialauswahl vergleichbar” seien. Außerdem bildeten sie vier Altersgruppen: Lebensalter 25 bis 34 Jahre, 35 bis 44 Jahre, 45 bis 54 Jahre und über 55 Jahre. Die Belegschaft des gewerblichen Bereichs verteilte sich auf die Gruppen – aufsteigend – wie folgt: 23 %, 34 %, 32 %, 11 %. Daran anschließend ist nach der Richtlinie die – eigentliche – Sozialauswahl innerhalb der Altersgruppen nach einem Punkteschema durchzuführen. Dazu sind für die Betriebszugehörigkeit in den ersten zehn Dienstjahren je Dienstjahr ein Punkt, ab dem 11. Dienstjahr zwei Punkte (maximal 70 Punkte) und für jedes volle Lebensjahr ein Punkt (maximal 55 Punkte) in Ansatz zu bringen. Ferner sind für jedes unterhaltsberechtigte Kind (lt. Steuerkarte) vier Punkte, für den unterhaltsberechtigten Ehepartner vier Punkte und für alleinerziehende Mitarbeiter weitere vier Punkte anzurechnen. Die Schwerbehinderung ist bei einem GdB bis 50 mit fünf Punkten und bei jedem um zehn höheren Grad mit einem weiteren Punkt zu berücksichtigen.
Rz. 6
Mit Schreiben vom 28. Juli 2008 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien – nach Anhörung des Betriebsrats und mit dessen Zustimmung – zum 31. Oktober 2008.
Rz. 7
Dagegen hat die Klägerin rechtzeitig die vorliegende Kündigungsschutzklage erhoben. Sie hat geltend gemacht, betriebliche Kündigungsgründe lägen nicht vor. Die im Interessenausgleich beschriebenen organisatorischen Maßnahmen seien nicht, jedenfalls nicht auf Dauer durchgeführt worden. Tatsächlich habe sich der Arbeitskräftebedarf im Jahr 2008 aufgrund der Einführung neuer Produkte sogar erhöht. Überdies beschäftige die Beklagte durchgängig eine Vielzahl von Leiharbeitnehmern. Bei den mit ihnen besetzten Arbeitsplätzen handele es sich um “freie” Arbeitsplätze, die die Beklagte vorrangig mit Stammarbeitnehmern habe besetzen müssen. Die Sozialauswahl sei grob fehlerhaft. Entgegen den Vorgaben der Auswahlrichtlinie seien vergleichbare gewerbliche Arbeitnehmer, die im Lager, im Werkstattbereich und der Qualitätsprüfung beschäftigt seien, nicht in die Auswahl einbezogen worden. Die Altersgruppen seien willkürlich gewählt und auf ein bestimmtes Ergebnis der Sozialauswahl hin zugeschnitten.
Rz. 8
Die Klägerin hat beantragt
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 28. Juli 2008 nicht aufgelöst worden ist;
2. die Beklagte zu verurteilen, sie als Produktionsmitarbeiterin weiterzubeschäftigen;
3. die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.123,70 Euro brutto abzüglich 1.182,60 Euro netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Rz. 9
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Kündigung für sozial gerechtfertigt gehalten. Die Klägerin habe die nach § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG zu vermutende Betriebsbedingtheit der Kündigung nicht widerlegt. Die im Interessenausgleich dargestellten Maßnahmen, die auf einen Rückgang des Produktionsvolumens seit dem Jahr 2008 um mehr als 16 vH zurückzuführen seien, seien allesamt durchgeführt worden. Zwar habe sie die Herstellung der beiden im Interessenausgleich bezeichneten Produkte im Herbst des Jahres 2008 vorübergehend wieder aufgenommen. Dies sei jedoch auf einen nicht vorhersehbaren, temporären Produktionsengpass in einem französischen Schwesterwerk zurückzuführen gewesen; an ihrer Entscheidung, die Produktion der betreffenden Artikel in E… dauerhaft einzustellen, habe sich dadurch nichts geändert. Leiharbeitnehmer beschäftige sie lediglich zur Abdeckung eines über das verbliebene Volumen von 137 Arbeitsplätzen hinausgehenden, nicht vorhersehbaren (Vertretungs-)Bedarfs. Sie sei nicht verpflichtet, eine eigene Personalreserve vorzuhalten. Die soziale Auswahl sei nicht zu beanstanden. Die außerhalb des Produktionsbereichs tätigen gewerblichen Arbeitnehmer verfügten über eine andere – zumeist technische – Ausbildung und seien mit der Klägerin nach arbeitsplatzbezogenen Kriterien nicht vergleichbar. Die Bildung von Altersgruppen sei legitim. Dadurch sei erreicht worden, die Altersstruktur im Produktionsbereich annähernd zu erhalten.
Rz. 10
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Anträge in vollem Umfang weiter.