BAG Urteil vom 27.01.2011 - 8 AZR 580/09
Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewerbung. Benachteiligung. Schutz von einfach behinderten Menschen durch das AGG
Orientierungssatz
1. Wer als Arbeitgeber um Bewerbungen bittet, “beschäftigt” Personen nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG.
2. Ein Bewerber, der zwar behindert, jedoch nicht schwerbehindert iSv. § 2 Abs. 2 SGB IX ist und auch nicht gleichgestellt wurde (§ 2 Abs. 3 SGB IX), kann sich auf von ihm gesehene Verstöße des Arbeitgebers im Bewerbungsverfahren gegen die §§ 81 ff. SGB IX nicht berufen. Diese gelten nur für Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen, § 68 Abs. 1 SGB IX.
3. Der Schutz einfach behinderter Menschen vor Diskriminierung wird nunmehr durch das am 18. August 2006 in Kraft getretene AGG (bei gleichzeitiger Neufassung von § 81 SGB IX) gewährleistet. Einfach behinderte Menschen, die sich bei ihrer Bewerbung aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt sehen, müssen Vermutungstatsachen iSd. § 22 AGG vortragen; nach Inkrafttreten des AGG wird die Übergangsrechtsprechung zur Umsetzung der Vorgaben der RL 2000/78/EG nicht fortgesetzt, da nunmehr eine gemeinschaftsrechtskonforme gesetzliche Regelung zum Schutz behinderter Menschen besteht.
Normenkette
AGG §§ 1, 6, 15, 22; ArbGG § 61b Abs. 1; BGB §§ 126, 126b; SGB IX §§ 2, 81-82; SGB X § 34
Verfahrensgang
LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 02.06.2009; Aktenzeichen 3 Sa 499/09) |
ArbG Berlin (Urteil vom 14.01.2009; Aktenzeichen 26 Ca 7272/08) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 2. Juni 2009 – 3 Sa 499/09 – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten über einen Entschädigungsanspruch der Klägerin wegen einer Benachteiligung bei einer Bewerbung aufgrund ihrer Behinderung.
Rz. 2
1987 hatte die Klägerin eine Ausbildung zur Industriekauffrau abgeschlossen. 1997/1998 hat sie erfolgreich an einer Ausbildung zur Fachkraft “Sekretariat – Allroundausbildung mit Englisch” teilgenommen. Schließlich ließ sie sich von September 2004 bis Juni 2006 zur Kauffrau im Gesundheitswesen ausbilden. Danach war sie nicht berufstätig.
Rz. 3
Ausweislich eines Bescheides des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin – Versorgungsamt – vom 10. Dezember 2002 wurde bei der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 festgestellt. Auf einen Gleichstellungsantrag wurde ihr mit Bescheid vom 28. Juni 2007 von der Bundesagentur für Arbeit Berlin Süd die Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen für den Fall zugesichert, dass im Zuge der Vermittlungsbemühungen oder eigener Bemühungen zur Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes der künftige Arbeitgeber die Einstellung der Klägerin von einer vorherigen Gleichstellung abhängig machen sollte.
Rz. 4
In der Berliner Morgenpost vom 13. Januar 2008 schaltete die Beklagte, deren Gesellschaftsanteile vollständig vom Land Berlin gehalten werden, eine Anzeige, deren Inhalt auszugsweise lautet:
“…
Für das Zentrum für Brusterkrankungen im V suchen wir zum 1. März 2008 eine/einen
Sekretärin/Sekretär des Chefarztes
befristet für die Dauer von voraussichtlich zwei Jahren.
…
Ihre Aufgaben:
– Sie führen das Chefarztsekretariat
– Sie erledigen alle anfallenden Tätigkeiten sowie Korrespondenzen selbständig
– Sie schreiben nach Stichworten, Diktat oder eigener Verantwortung
– Sie planen die Termine für den Chefarzt in Outlook
– Sie organisieren, bereiten vor und koordinieren Dienstreisen, Konferenzen und Mitarbeiterbesprechungen
– Sie erstellen Organigramme und Prozessabläufe
– Sie sind für die organisatorische Abwicklung und Koordination der Ambulanz verantwortlich
– Sie planen und organisieren interne Veranstaltungen
– Sie betreuen Studien und Studienpatienten mit
Ihr Profil:
– Sie verfügen über eine abgeschlossene Ausbildung als Sekretär/in im Gesundheitswesen
– Sie beherrschen die fachspezifische medizinische Nomenklatur
– Sie besitzen hohe kommunikative Kompetenz und Organisationstalent
– Sie verfügen über ein freundliches und kompetentes Auftreten
– Sie besitzen die Bereitschaft zu konstruktiver Teamarbeit
– Sie besitzen sehr gute Kenntnisse in MS Office Anwendungen (Word, Excel, Power Point), ORBIS, E-Mail- und Internetkenntnisse (Outlook) sowie Englischkenntnisse in Schrift und Sprache
Ihre Perspektiven:
– Eine Vergütung, die sich grundsätzlich nach dem BAT richtet.
…”
Rz. 5
In ihrem Bewerbungsschreiben um die mit ca. 2.200,00 EUR brutto pro Monat vergütete Stelle vom 15. Januar 2008 führte die Klägerin ua. aus:
“ …
ich bewerbe mich bei Ihnen als Gesundheitskauffrau um Ihre Stelle als Sekretärin für den Chefarzt für das Zentrum für Brusterkrankungen.
Als Industriekauffrau seit 1987 mit Abitur und Sekretariatsassistentin mit Englisch seit 1998, sowie Gesundheitskauffrau seit dem 19.06.2006 denke ich Ihren Anforderungen voll zu entsprechen. Als mehrfache Kauffrau kann ich gut organisieren, planen, protokollieren, rechnen und diverse EDV-Programme bedienen.
Ich arbeite gewissenhaft, ich bin rechtschreibsicher und schreibe ca. 250 A/Min. Ich verfasse gerne Schreiben selbständig, nur nach Anweisungen oder Stichpunkten, auch Phondiktat ist mir gut bekannt. In Qualitätsmanagement und in medizinischer Terminologie hatte ich ein ‘gut’ im Zeugnis. Organisationstalent und sehr gute Englischkenntnisse in Wort und Schrift bringe ich mit.
Ich verfüge diverse Sekretariatserfahrungen, konnte im Gesundheitswesen erste Erfahrungen machen. Meine Praktika zur Gesundheitsausbildung absolvierte ich in der Diakonie und bei der AOK.
Ich verfüge eine ‘Zusicherung der Gleichstellung’ bei einem GdB von 40 durch die Arbeitsagentur, bin insofern besonders förderungswürdig, auch aufgrund einer Arbeitslosigkeit über 1 Jahr.
Eine Einladung zu einem persönlichen Gespräch wäre lt. AGG zu befolgen und vorteilhaft.
Dann könnten wir Details Ihrer Anforderungen und meiner Kenntnisse im medizinischen Bereich besprechen. Ich danke Ihnen im voraus für Ihre freundliche Bearbeitung.
…”
Rz. 6
Nachdem der zuständige Chefarzt, für dessen Sekretariat die Stelle ausgeschrieben worden war, sich für eine andere Bewerbung entschieden hatte, teilte die Beklagte mit Schreiben vom 6. Februar 2008 der Klägerin mit, dass einer anderen Bewerberin der Vorrang gegeben worden sei.
Rz. 7
Mit Telefax vom 19. Februar 2008 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten eine Benachteiligung wegen ihrer Behinderung geltend. Sie forderte die Beklagte auf, ihr entweder eine gleichwertige Stelle zu beschaffen oder ihr eine Entschädigung iHv. zwei Gehältern der ausgeschriebenen Stelle zu zahlen. Andernfalls werde sie auf Zahlung von drei Bruttomonatsgehältern klagen. Im Antwortschreiben vom 21. Februar 2008 verwies die Beklagte darauf, dass die von der Klägerin eingereichten Bewerbungsunterlagen die geforderte Qualifikation nicht ausreichend hatten erkennen lassen.
Rz. 8
Mit ihrer am 9. Mai 2008 rechtshängig gewordenen Klage verfolgt die Klägerin ihren Anspruch auf Entschädigung weiter.
Rz. 9
Sie ist der Auffassung, die Vermutung einer Diskriminierung wegen ihrer Behinderung lasse sich aus verschiedenen Verstößen der Beklagten gegen Bestimmungen des SGB IX ableiten. Sie hält die Beklagte für einen öffentlichen Arbeitgeber, da ihre Gesellschaftsanteile vollständig vom Land Berlin gehalten würden und sie sich selbst in der Stellenanzeige als kommunaler Klinikkonzern bezeichnet habe. Weil der Schutzbereich des AGG nicht nur schwerbehinderte Menschen und diesen gleichgestellte Menschen, sondern auch behinderte Menschen erfasse, wäre die Beklagte verpflichtet gewesen, die Klägerin zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Dies um so mehr, als ihr von der Agentur für Arbeit die Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen zugesichert worden sei. Zudem gebiete die Rahmenrichtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 einen umfassenden Schutz wegen Behinderung. Auch nach Einführung des AGG und der Neufassung des § 81 SGB IX bestehe ein Umsetzungsdefizit, das bei richtlinienkonformer Auslegung des § 81 SGB IX gebiete, diese Norm auch auf (einfach-)behinderte Menschen anzuwenden. Daher spreche für die Vermutung einer Diskriminierung, dass die Beklagte ihre Schwerbehindertenvertretung über die Bewerbung nach § 81 Abs. 1 Satz 4 SGB IX nicht unterrichtet habe und auch nicht entsprechend § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX am Bewerbungsverfahren beteiligt habe. Ebenso wenig sei die Schwerbehindertenvertretung nach § 81 Abs. 1 Satz 6 SGB IX an der Prüfung beteiligt worden, ob der freie Arbeitsplatz mit einem schwerbehinderten Menschen besetzt werden könne. Auch die Bundesagentur für Arbeit sei über die zu besetzende Stelle nicht informiert worden.
Rz. 10
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 4.400,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Rz. 11
Ihren Antrag auf Klageabweisung hat die Beklagte mit der Auffassung begründet, die Schwerbehindertenvertretung ausreichend informiert zu haben. Mit Betriebsrat, Frauenvertreterin und Vertrauensperson der Schwerbehinderten sei vereinbart gewesen, dass diesen die Bewerberunterlagen im Bereich des Personalservice zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt werden. Dem Betriebsrat sei am 28. Januar 2008 das Formblatt “Personalwirtschaftliche Maßnahme” übersandt worden. Per Fax sei dieses auch der Frauenvertreterin bekannt gemacht worden, die gleichzeitig gewählte Vertrauensperson der Schwerbehinderten sei. Ausschlaggebend für die Nichtberücksichtigung der Klägerin sei gewesen, dass diese – anders als die ausgewählte Bewerberin – keine Kenntnis des Patienten-EDV-Systems ORBIS nachgewiesen habe, ihre berufliche Biographie Lücken aufweise und die Erfahrung zugrunde gelegt worden sei, dass die geforderte Kenntnis der medizinischen Nomenklatur nur bei ständiger praktischer Übung das erforderliche Niveau erreiche.
Rz. 12
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, die Berufung der Klägerin blieb vor dem Landesarbeitsgericht ohne Erfolg. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageanspruch weiter.