HI1848581

BAG Urteil vom 19.06.2007 - 2 AZR 304/06

HI1848581_1

Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsbedingte Änderungskündigung. Namensliste. Altersdiskriminierung. Ordentliche betriebsbedingte Änderungskündigung. § 1 Abs. 5 KSchG auch für Änderungskündigungen?. Wirkungen einer zeitlich erst nach Abschluss des Interessenausgleichs. abgeschlossene Namensliste nach § 1 Abs. 5 KSchG. unternehmerische Entscheidung. Sozialauswahl: grober Fehler durch fehlerhafte Altersgruppenbildung. DB-Konzern-Ratio TV: zumutbares Weiterbeschäftigungsangebot. Betriebsratsanhörung

HI1848581_2

Leitsatz (amtlich)

1. § 1 Abs. 5 KSchG gilt auch für Änderungskündigungen.

2. Die Reichweite der danach eingreifenden Vermutung erstreckt sich jedenfalls auf den Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses zu den bisherigen Bedingungen und das Fehlen einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit im Betrieb.

3. Das in der Richtlinie 2000/78/EG des Rates enthaltene europarechtliche Verbot der Altersdiskriminierung steht der Verwendung einer Punktetabelle zur Sozialauswahl, die eine Bildung von Altersgruppen und auch die Zuteilung von Punkten für das Lebensalter vorsieht, nicht im Wege, wenn sie durch legitime Ziele gerechtfertigt ist.

HI1848581_3

Orientierungssatz

1. § 1 Abs. 5 KSchG gilt auch für Änderungskündigungen. Zwar enthält § 2 KSchG keine ausdrückliche Bezugnahme oder Verweisung auf die Regelungen des § 1 Abs. 5 KSchG. In § 2 KSchG ist kein eigener Begriff der sozialen Rechtfertigung enthalten. Die Vorschrift verweist vielmehr ohne weiteres auf § 1 Abs. 2 Satz 1 bis 3 und Abs. 3 Satz 1 und 2 KSchG. Zu den Tatbestandsmerkmalen einer sozial gerechtfertigten Kündigung gehört bei einer betriebsbedingten Kündigung das Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen.

2. Die Reichweite der Vermutungen nach § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG erstreckt sich auf den Wegfall des Beschäftigungsbedürfnisses zu den bisherigen Bedingungen einschließlich des Fehlens einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit im Betrieb.

3. Die Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG ist jedenfalls dann auch auf die fehlende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in einem anderen Betrieb des Unternehmens zu erstrecken, wenn der Interessenausgleich vom hierfür zuständigen Gesamtbetriebsrat abgeschlossen wird.

4. Die Anwendung des § 1 Abs. 5 KSchG bei der Prüfung des Vorliegens dringender betrieblicher Erfordernisse bedeutet nicht ohne weiteres, dass die vorgeschlagene Änderung vom Arbeitnehmer auch billigerweise hingenommen werden muss.

5. Haben die Betriebsparteien einzelne vorgesehene Änderungen in den Interessenausgleich mit aufgenommen, so kann eine Mitbeurteilung des im Interessenausgleich enthaltenen Teils des Änderungsangebots durch den Betriebsrat stattgefunden haben und eine ausreichende Rechtfertigung für die Vermutung des § 1 Abs. 5 KSchG auch hinsichtlich des Änderungsangebots vorliegen.

6. Ein etwa – inhaltlich mit dem Verbot der Altersdiskriminierung in der Richtlinie 2000/78/EG des Rates übereinstimmender – allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts steht Regelungen, die an das Lebensalter anknüpfen, nicht im Wege, so lange sie durch legitime Ziele gerechtfertigt sind.

7. Deren Vorhandensein war bei der hier in Rede stehenden Punktetabelle zur Sozialauswahl, die eine Bildung von Altersgruppen und die Zuteilung von Punkten für das Lebensalter vorsah, nicht im Streit.

8. Die durch die Gruppenbildung erstrebte Erhaltung der Altersstruktur wirkt nicht nur einer Überalterung der Belegschaft entgegen, sondern relativiert auch die etwa überschießenden Tendenzen der Bewertung des Lebensalters als Sozialdatum und verhindert eine übermäßige Belastung jüngerer Beschäftigter.

HI1848581_4

Normenkette

KSchG §§ 1-2; Richtlinie 2000/78/EG des Rates

HI1848581_5

Verfahrensgang

Sächsisches LAG (Urteil vom 06.12.2005; Aktenzeichen 7 Sa 584/05)

ArbG Leipzig (Urteil vom 03.06.2005; Aktenzeichen 8 Ca 158/05)

HI1848581_6

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 6. Dezember 2005 – 7 Sa 584/05 – wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

Von Rechts wegen!

HI1848581_7

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten auf betriebliche Gründe gestützten ordentlichen Änderungskündigung.

Die 1972 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Klägerin trat 1993 in die Dienste einer Rechtsvorgängerin der Beklagten. Sie war zuletzt in der regionalen Zugansage in D… beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden auf Grund einzelvertraglicher Bezugnahme die für die Beklagte maßgeblichen Tarifverträge Anwendung.

Die Beklagte erbringt ua. Dienstleistungen auf den Bahnhöfen der Deutschen Bahn AG. Auf der Grundlage eines Vorstandsbeschlusses vom 8. Mai 2004 erließ die Beklagte im August 2004 eine Organisationsanweisung zur Umstrukturierung des Regionalbereichs Südost, der nach ihrem Dafürhalten besonders unwirtschaftlich arbeitete. Der Regionalbereich Südost besteht aus drei (Betriebsrats-)Wahlbetrieben. In dem Wahlbetrieb, dem die Klägerin angehörte, sah die Neukonzeption eine Reduzierung um 55 sog. “Vollzeitpersonale” vor.

Am 25. August 2004 schloss die Beklagte mit den drei betroffenen Betriebsräten eine Betriebsvereinbarung zu Auswahlrichtlinien für die anstehenden personellen Maßnahmen ab. Darin heißt es ua.:

“Die Parteien sind sich darüber einig, dass zur Erhaltung und Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur in den jeweils betreffenden Betrieben nachfolgende Altersgruppen gebildet werden:

a) Altersgruppen:

– bis 29 Jahre

– 30 – 39 Jahre

– 40 – 49 Jahre

– 50 – 59 Jahre

– ab 60 Jahre

b) Sozialauswahlkriterien:

Betriebszugehörigkeit:

bis 10 Jahre 1 Punkt/Jahr

ab 11 Jahre 2 Punkte/Jahr

max. 70 Punkte

Lebensalter:

1 Punkt/Jahr

max. 55 Punkte

Unterhalt:

5 Punkte/Kind (nachweispflichtig), keine Deckelung

5 Punkte/Kind pro anerkannter Pflegestufe, max. 15 Punkte (betrifft nur die Punkte bei der Pflegestufe)

Verheiratet/Eingetragene Lebenspartnerschaft

4 Punkte

Schwerbehinderte/Gleichgestellte:

5 Punkte

1 Punkt je 10 % GdB über 50 % GdB

besondere Härtefälle:

bis 10 Punkte

Es besteht Einigkeit darüber, dass die Sozialauswahl anteilmäßig gleich in den oben gebildeten Altersgruppen durchgeführt wird. Dies erfolgt dergestalt, dass die Sozialauswahl in den jeweiligen Altersgruppen in dem Verhältnis der Anzahl der Mitarbeiter der jeweiligen Altersgruppe zu der Gesamtanzahl der einzubeziehenden Mitarbeiter geschieht.

Bei Härtefällen entscheiden der Arbeitgeber und der Betriebsrat im Einvernehmen über die zu vergebenden Punkte bis zur maximal zulässigen Höhe. Sollte ein gegenseitiges Einvernehmen nicht erzielt werden, so entscheidet hierüber die Einigungsstelle, die mit je 3 Beisitzern zu besetzen ist.

Bei Punktegleichheit entscheidet der Arbeitgeber und der Betriebsrat einvernehmlich. Sollte ein gegenseitiges Einvernehmen nicht erzielt werden, so entscheidet hierüber die Einigungsstelle, die mit je 3 Beisitzern zu besetzen ist.

Die Parteien sind sich darüber einig, dass bei der sozialen Auswahl in jedem Fall eine Einzelfallbetrachtung durchzuführen ist.”

Am 1. September 2004 schloss die Beklagte mit ihrem Gesamtbetriebsrat einen Teilinteressenausgleich (TIA Nr. 11) ab, der auszugsweise wie folgt lautet:

§ 4

Sozialverträgliche Versetzungen (kein Beschäftigungswegfall)

1) Die im Rahmen der Maßnahmen nach § 2 vorzunehmenden Versetzungen innerhalb des Regionalbereichs Südost erfolgen auf Grundlage der Funktionstransfermatrix (Anlage 2).

2) Die zu versetzenden Mitarbeiter erhalten nach Durchführung des Beteiligungsverfahrens gemäß § 99 BetrVG ein Versetzungsschreiben mit der neuen fachlichen Unterstellung und der ggf. geänderten Wahlbetriebszugehörigkeit innerhalb des RB Südost. Soweit mit der Versetzung ein Wechsel des Arbeitsortes innerhalb des RB Südost oder einer teilweise Änderung der bisher ausgeübten Tätigkeit verbunden ist, erhalten sie ein Angebot zur Weiterbeschäftigung unter den jeweils geänderten Arbeitsbedingungen. Im Falle der Ablehnung der Versetzung finden die gesetzlichen Regelungen bzw. tarifvertraglichen Regelungen Anwendung.

§ 5

Personalanpassung

1) Nach Abschluss des Verfahrens nach § 6 KBV KA wird den vom Beschäftigungswegfall betroffenen Arbeitnehmern ein zumutbares, möglichst gleichwertiges Beschäftigungsangebot am bisherigen Arbeitsort bei DB Station & Service AG gemacht. Sollte dies nicht möglich sein, wird dem Arbeitnehmer ein zumutbares, möglichst gleichwertiges Beschäftigungsangebot im Gebiet seines Regionalbereiches gemacht. Sollte im Regionalbereich keine Beschäftigungsmöglichkeit vorhanden sein, wird ein zumutbares, möglichst gleichwertiges Beschäftigungsangebot bundesweit bei der DB Station & Service AG unterbreitet.

2) Soweit betroffenen Arbeitnehmern kein Arbeitsplatz bei der DB Station & Service AG angeboten werden kann, wird die konzernweite Vorvermittlung gemäß § 5 KonzernRatioTV eingeleitet. Zur Vermeidung besonderer Härten wird auf Wunsch des Arbeitnehmers, der ein Beschäftigungsangebot der DB Station & Service AG erhalten hat, die Vorvermittlung für den Zeitraum der Entscheidungsfrist eingeleitet.

§ 7

Sozialplan

Zum Ausgleich bzw. zur Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern durch die Organisationsänderung bzw. der Verlagerung des Standortes entstehen, findet der Gesamtsozialplan der DB Station & Service AG vom 17.07.2002 Anwendung.

§ 8

Inkrafttreten

Die Parteien sind sich einig, dass die Verhandlungen mit Unterzeichnung abgeschlossen sind und das Verfahren zur Herbeiführung eines Interessenausgleichs damit beendet ist. Der Teilinteressenausgleich tritt mit Unterzeichnung in Kraft und endet mit Umsetzung der Maßnahmen, spätestens jedoch am 30. September 2005.

Berlin, den 01.09.04”

Am 24. September 2004 schlossen die Beklagte, der Gesamtbetriebsrat und der Betriebsrat des Beschäftigungsbetriebs der Klägerin (Wahlbetrieb S. 7) eine Vereinbarung mit dem Titel “Namensliste im Sinne des § 1 Abs. 5 Kündigungsschutzgesetz” ab. In ihr sind, geordnet nach zwei Gruppen (nichtoperativ/operativ), 36 Arbeitnehmer namentlich aufgeführt, darunter die Klägerin in der Gruppe der Mitarbeiter operativer Bereich. Der Eingangssatz der Vereinbarung lautet wie folgt:

“Die nachfolgend aufgeführten MitarbeiterInnen des Wahlbetriebes S. 7 – Sachsen sind vom Wegfall der Beschäftigung im Zusammenhang mit den im Teilinteressenausgleich Nr. 11 der DB Station & Service AG bezeichneten Maßnahmen betroffen.”

Die Beklagte wandte sich unter dem 18. Oktober 2004 an den Betriebsrat des Wahlbetriebs S. 7 und teilte ihm mit, sie beabsichtige das Arbeitsverhältnis der Klägerin zu kündigen und ihr eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen anzubieten. Der Betriebsrat nahm keine Stellung. Mit Schreiben vom 27. Oktober 2004 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin fristgerecht und bot ihr die Weiterbeschäftigung als Servicemitarbeiterin in Do… an. Die Klägerin nahm das Angebot nicht, auch nicht unter Vorbehalt, an.

Die Klägerin hat Kündigungsschutzklage erhoben. Sie hält die Kündigung für unwirksam und hat geltend gemacht, die Beklagte könne sich nicht auf die Vermutungswirkung des § 1 Abs. 5 KSchG berufen. Die nachträglich vereinbarte Namensliste sei nicht Bestandteil des Interessenausgleichs geworden. Der Interessenausgleich habe sich als abgeschlossene Regelung verstanden. Dringende betriebliche Gründe für die Kündigung habe die Beklagte nicht substantiiert vorgetragen. Die Sozialauswahl sei fehlerhaft durchgeführt worden. In ihrer Altersgruppe seien überproportional viele Kündigungen erfolgt. Außerdem sei das Änderungsangebot nicht “zumutbar” im Sinne der Weiterbeschäftigungspflicht der Beklagten nach dem DB-Konzern-Ratio-TV. Schließlich sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden.

Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Änderungskündigung vom 27. Oktober 2004, zugegangen am 28. Oktober 2004, nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und ausgeführt, die Änderungskündigung sei wirksam. Die Klägerin habe die nach § 1 Abs. 5 KSchG eingreifende Vermutung der Betriebsbedingtheit nicht widerlegt. Der Teilinteressenausgleich und die Namensliste erfüllten die gesetzlichen Voraussetzungen, insbesondere sei die Namensliste auch Bestandteil des Interessenausgleichs, auf den sie ausdrücklich Bezug nehme. Jedenfalls liege auch eine konkrete Unternehmerentscheidung vor, die zum Wegfall des Arbeitsplatzes der Klägerin geführt habe. Der angebotene Arbeitsplatz sei nicht unzumutbar im Sinne des DB-Konzern-Ratio-TV. Die Sozialauswahl sei nicht und schon gar nicht grob fehlerhaft. Die Altersgruppen seien zutreffend gebildet. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß beteiligt worden.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr ursprüngliches Klagebegehren weiter.