BAG Urteil vom 02.06.2022 - 8 AZR 191/21
Entscheidungsstichwort (Thema)
Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Kündigung. Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Vermutung der Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. vorherige Zustimmung des Integrationsamts
Leitsatz (amtlich)
§ 168 SGB IX, wonach die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts bedarf, gehört zu den Vorschriften, die Verfahrenspflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Hat der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung die nach § 168 SGB IX erforderliche vorherige Zustimmung des Integrationsamts nicht eingeholt, kann dieser Umstand die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass die Benachteiligung, die der schwerbehinderte Mensch durch die Kündigung erfahren hat, wegen der Schwerbehinderung erfolgte.
Orientierungssatz
1. Nach § 168 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Diese Bestimmung gehört zu den Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten und deren Verletzung grundsätzlich geeignet ist, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein. Hat der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung die nach § 168 SGB IX erforderliche vorherige Zustimmung des Integrationsamts nicht eingeholt, kann dieser Umstand die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass die Benachteiligung, die der schwerbehinderte Mensch erfahren hat, wegen der Schwerbehinderung erfolgte (Rn. 30 ff.).
2. Nach § 173 Abs. 3 SGB IX findet ua. § 168 SGB IX keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist (1. Alternative) oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 152 Abs. 1 Satz 3 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte (2. Alternative). § 173 Abs. 3 SGB IX gilt nicht nur für schwerbehinderte Menschen, sondern auch für ihnen gleichgestellte behinderte Menschen. Dabei setzt das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes grundsätzlich voraus, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung entweder die Schwerbehinderung bereits festgestellt (oder eine Gleichstellung erfolgt) ist oder die Stellung des Antrags auf Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch (bzw. auf Gleichstellung) mindestens drei Wochen zurückliegt (Rn. 35).
3. Ein Nachweis der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch im Wege der behördlichen Feststellung ist allerdings nicht erforderlich, wenn die Schwerbehinderung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung „offensichtlich” bzw. „offenkundig” ist, sich also der Umstand der Schwerbehinderung „gleichsam aufdrängt”, also die Schwerbehinderung unzweifelhaft für jede/n ersichtlich besteht. Für den Umstand einer offenkundigen Schwerbehinderung muss nicht nur das Vorliegen einer oder mehrerer Beeinträchtigungen offenkundig sein, sondern auch, dass der Grad der Behinderung in einem Feststellungsverfahren auf wenigstens 50 festgesetzt würde (Rn. 39).
4. Nach § 167 Abs. 1 SGB IX, der ebenfalls zu den Bestimmungen gehört, die Verfahrens- bzw. Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter bzw. denen gleichgestellter Menschen enthalten, schaltet der Arbeitgeber bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen sowie das Integrationsamt ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeitsoder sonstige Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann. Das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX findet nach § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX ausschließlich auf schwerbehinderte und ihnen nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellte behinderte Menschen Anwendung. Deshalb müssen Beschäftigte, die ihre Eigenschaft als schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte behinderte Menschen im Arbeitsverhältnis berücksichtigt wissen wollen, den Arbeitgeber über die vorhandene Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung rechtzeitig in Kenntnis setzen, soweit der Arbeitgeber nicht ausnahmsweise bereits über diese Information verfügt. Andernfalls fehlt es an der (Mit-)Ursächlichkeit der Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung für die Benachteiligung (Rn. 43, 45).
5. Unterlässt der Arbeitgeber die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements iSv. § 167 Abs. 2 SGB IX, ist dies kein Umstand, der die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung iSv. § 22 AGG begründen könnte. § 167 Abs. 2 SGB IX bestimmt keine Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen, die Bestimmung findet vielmehr auf alle Beschäftigten unabhängig von dem Vorliegen einer (Schwer)Behinderung Anwendung (Rn. 47 f.).
Normenkette
AGG §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4, § 3 Abs. 1, §§ 6, 7 Abs. 1, § 15 Abs. 2, § 22; SGB IX § 152 Abs. 1 S. 3, § 167 Abs. 1-2, §§ 168, 173 Abs. 3; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2; Richtlinie 2000/78/EG
Verfahrensgang
LAG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 26.01.2021; Aktenzeichen 6 Sa 29/19) |
ArbG Dessau (Urteil vom 27.11.2018; Aktenzeichen 8 Ca 119/18) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 26. Januar 2021 - 6 Sa 29/19 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte dem Kläger wegen einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet ist.
Rz. 2
Der Beklagte ist Inhaber eines Gebäudeservice-Unternehmens. Der Kläger war bei ihm aufgrund Arbeitsvertrags vom 1. Juni 2012, zuletzt geändert durch Vertrag vom 1. Januar 2015, als Hausarbeiter zu einem regelmäßigen Bruttomonatsentgelt iHv. 1.037,23 Euro beschäftigt. Auf der Grundlage eines zwischen dem Beklagten und der Stadt L geschlossenen „Vertrags über eine Personalgestellung“ für Hausmeisterleistungen wurde der Kläger an der Grundschule K in P eingesetzt.
Rz. 3
Der Kläger war ab dem 11. Februar 2018 arbeitsunfähig erkrankt. Die spätere vorläufige Betreuerin des Klägers S setzte Beschäftigte des Beklagten hierüber am 12. Februar 2018 telefonisch in Kenntnis.
Rz. 4
Mit Schreiben vom 15. Februar 2018 kündigte die Stadt L den og. „Vertrag über eine Personalgestellung“ für Hausmeisterleistungen zum 30. April 2018.
Rz. 5
Mit Schreiben vom 29. März 2018, das dem Kläger am 31. März 2018 zuging, erklärte der Beklagte die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger. In dem an Herrn „St“ gerichteten Kündigungsschreiben heißt es ua.:
„Die H kündigt das mit Ihnen bestehende Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 30.04.2018, da uns der Auftraggeber den Hausmeisterauftrag gekündigt hat.“ |
Rz. 6
Nachdem die nunmehrige vorläufige Betreuerin des Klägers S den Beklagten darauf hingewiesen hatte, dass dieser den Namen des Klägers falsch, nämlich mit „t“, anstelle mit „d“ geschrieben hatte, ging ihr am 4. April 2018 ein nunmehr zutreffend adressiertes, im Übrigen aber gleichlautendes, ebenfalls auf den 29. März 2018 datiertes Kündigungsschreiben zu.
Rz. 7
Der Kläger hat die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses mit einer Kündigungsschutzklage angegriffen; das Verfahren wurde durch einen Vergleich vor dem Arbeitsgericht erledigt.
Rz. 8
Mit anwaltlichem Schreiben vom 23. April 2018 machte der Kläger gegenüber dem Beklagten erfolglos einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz bzw. Entschädigung nach § 15 AGG geltend.
Rz. 9
In der Folgezeit beantragte er beim zuständigen Landesverwaltungsamt die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch. Sein Antrag ging dort am 17. Oktober 2018 ein. Er wurde sodann ab dem 17. Oktober 2018 und zunächst mit Wirkung bis Oktober 2020 als schwerbehinderter Mensch anerkannt.
Rz. 10
Mit seiner beim Arbeitsgericht am 23. Juli 2018 eingegangenen Klage hat der Kläger den Beklagten auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Anspruch genommen. Er hat die Ansicht vertreten, der Beklagte habe ihn wegen seiner Schwerbehinderung diskriminiert. Dies ergebe sich daraus, dass der Beklagte bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegen Vorschriften verstoßen habe, die Verfahrens- bzw. Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthielten. Insbesondere habe er nach § 168 SGB IX nicht ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamts kündigen dürfen. Zwar habe zum Kündigungszeitpunkt noch kein Nachweis seiner Schwerbehinderung durch eine behördliche Feststellung vorgelegen, auch sei ein Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch noch nicht gestellt gewesen, allerdings sei seine Schwerbehinderung im Zeitpunkt der Kündigung offenkundig gewesen. Er habe am 11. Februar 2018 einen Schlaganfall erlitten und mit halbseitiger Lähmung auf der Intensivstation gelegen. Dies sei dem Beklagten am 12. Februar 2018 mitgeteilt worden. Weiter sei mitgeteilt worden, dass nicht absehbar sei, wann und ob er, der Kläger, aufgrund der Schwere der Lähmung wieder arbeiten könne. Zudem habe der Beklagte gegen § 167 SGB IX verstoßen, denn vor einer Kündigung seien Maßnahmen der Prävention erforderlich gewesen. Darüber hinaus habe der Beklagte nicht nur durch die Kündigung vom 29. März 2018, sondern auch durch die weitere Kündigung vom 29. März 2018 sowie das Festhalten an der zunächst zugegangenen Kündigung gegen das AGG verstoßen. Er habe nicht erklärt, aus der ersten Kündigung keine Rechte mehr herzuleiten. Auch habe er bei Ausspruch der zweiten Kündigung nicht lediglich einen Schreibfehler korrigiert, sondern sich in Kenntnis der offenkundigen Schwerbehinderung des Klägers zu einer erneuten Kündigungserklärung entschlossen. Auch dadurch sei der Kausalzusammenhang zwischen seiner Behinderung und der Kündigung belegt.
Rz. 11
Die Beendigung des zwischen dem Beklagten und der Stadt L geschlossenen „Vertrags über eine Personalgestellung“ habe nicht zur Kündigung führen müssen, da er nach seinem Arbeitsvertrag auch mit anderen Aufgaben hätte beschäftigt werden können. Ein Arbeitgeber, der behinderte und nicht-behinderte Menschen gleichbehandle, hätte zunächst abgewartet und ihm, dem Kläger, ggf. eine andere Arbeit zugewiesen, sobald er wieder arbeitsfähig gewesen wäre.
Rz. 12
Der Kläger hat zuletzt sinngemäß beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn eine angemessene Entschädigung, die in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch mindestens 3.500,00 Euro betragen sollte, nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31. März 2018 zu zahlen. |
Rz. 13
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat die Auffassung vertreten, dem Kläger unter keinem Gesichtspunkt eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu schulden. Es werde bestritten, dass der Kläger am 11. Februar 2018 einen Schlaganfall mit der Folge rechtsseitiger Lähmung erlitten habe. Gleiches gelte für den Inhalt des Telefongesprächs vom 12. Februar 2018. Die spätere vorläufige Betreuerin S habe lediglich mitgeteilt, dass der Kläger im Krankenhaus liege. Sie habe sich auch nicht als Betreuerin legitimiert. Im Zeitpunkt der Kündigung habe er keine Kenntnis von einer Schwerbehinderung des Klägers oder von Tatsachen gehabt, die eine solche offenkundig erscheinen ließen. Deshalb habe er insbesondere nicht nach § 168 SGB IX vor der Kündigung des Arbeitsverhältnisses die Zustimmung des Integrationsamts einholen müssen. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger sei allein wegen der Kündigung des mit der Stadt L bestehenden Vertrags erfolgt. Der Arbeitsplatz des Klägers sei infolge dieser Kündigung dauerhaft entfallen, eine andere Beschäftigungsmöglichkeit für den Kläger habe nicht bestanden. Das zweite Kündigungsschreiben sei ausschließlich dem Hinweis auf den Schreibfehler beim Namen des Klägers geschuldet.
Rz. 14
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.