BAG Urteil vom 22.09.2005 - 2 AZR 519/04
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigungsschutz. Schwerbehinderte. Ordentliche Beendigungskündigung gegenüber einem schwerbehinderten Arbeitnehmer wegen psychischer Erkrankung. Möglichkeit des Einsatzes auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz: Zustimmungsverweigerung des Betriebsrats zur beabsichtigten Versetzung. Pflicht des Arbeitgebers, zur Vermeidung einer Kündigung ein Zustimmungsersetzungsverfahren durchzuführen unter Berücksichtigung der Verpflichtung, den Behinderten auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz einzusetzen. Verpflichtung zur Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens aus vertraglicher Zusage des Einsatzes auf einem konkreten leidensgerechten Arbeitsplatz. Auflösung des Arbeitsverhältnisses
Leitsatz (amtlich)
Die Pflicht des Arbeitgebers, einem schwerbehinderten Arbeitnehmer gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX einen seinen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechenden Arbeitsplatz zuzuweisen, ist auch zu berücksichtigen bei der Prüfung, ob eine Beendigungskündigung durch eine mit einer Änderungskündigung verbundene Versetzung auf einen solchen Arbeitsplatz vermieden werden kann. Widerspricht jedoch der Betriebsrat der Versetzung, ist in der Regel davon auszugehen, dass eine dem Arbeitgeber zumutbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeit nicht besteht. Der Arbeitgeber ist nur bei Vorliegen besonderer Umstände verpflichtet, ein Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG durchzuführen.
Orientierungssatz
Die krankheitsbedingte dauernde Unfähigkeit, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, berechtigt den Arbeitgeber nach § 1 Abs. 2 KSchG grundsätzlich zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Eine bestehende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem anderen Arbeitsplatz geht auch dann einer Beendigungskündigung vor, wenn sie nur zu geänderten Arbeitsbedingungen erfolgen kann.
Lässt sich eine Beendigungskündigung nur durch eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu schlechteren Arbeitsbedingungen vermeiden, so hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer regelmäßig diese Weiterbeschäftigung anzubieten. Über deren Zumutbarkeit hat dann allein der Arbeitnehmer zu entscheiden.
Ergibt sich der Anspruch eines schwerbehinderten Arbeitnehmers auf Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz bereits aus § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX, so würde es die Grenzen der Zumutbarkeit nach § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX unzulässig zu Lasten des Arbeitgebers verschieben, würde man von ihm im Fall der Verweigerung der Zustimmung des Betriebsrats zur Änderung der Arbeitsbedingungen des schwerbehinderten Arbeitnehmers stets ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände die Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens nach § 99 Abs. 4 BetrVG verlangen.
Im Normalfall ist dem Arbeitgeber die Durchführung des Zustimmungsersetzungsverfahrens gem. § 99 Abs. 4 BetrVG unzumutbar, weil eine solch erhebliche Verzögerung des Kündigungsverfahrens nach erteilter Zustimmung des Integrationsamtes mit nach § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es sich um Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten für den schwerbehinderten Arbeitnehmer handelt, die in dem Verfahren vor dem Integrationsamt geprüft worden sind mit dem Ergebnis, dass sie keine Lösungsmöglichkeit zur Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses darstellen.
Lediglich beim Vorliegen besonderer Umstände (etwa offensichtlich unbegründeter Widerspruch, kollusives Zusammenwirken zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat) ist der Arbeitgeber zur Durchführung eines Zustimmungsersetzungsverfahrens verpflichtet.
Verfahrensgang
LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 19.05.2004; Aktenzeichen 17 Sa 71/03) |
ArbG Stuttgart (Urteil vom 12.09.2003; Aktenzeichen 19 Ca 6547/01) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 19. Mai 2004 – 17 Sa 71/03 – aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten ordentlichen Kündigung.
Der 1960 geborene, verheiratete Kläger ist Volljurist und bei der Beklagten seit 1992 als juristischer Sachbearbeiter für Kraftfahrzeugschäden beschäftigt. Er verdiente zuletzt ein Jahresgehalt von 43.020,00 Euro zuzüglich einer Erfolgsbeteiligung von 2.600,44 Euro. Mit Bescheid vom 4. September 1998 wurde er mit einem Grad der Behinderung von 30 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.
Bis März 1996 war der Kläger im Bereich von Großschäden – höher als 40.000,00 DM – tätig, danach setzte ihn die Beklagte nur noch im Bereich der mittleren Personenschäden mit Schadensfällen bis 40.000,00 DM ein. Am 22. Dezember 1999 stellte die Beklagte bei der Hauptfürsorgestelle einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung des Klägers. In der Folgezeit wurde der Kläger durch den Integrationsdienst betreut und unterzog sich einer Verhaltenstherapie und Kur. Gleichzeitig prüfte die Beklagte Umsetzungsmöglichkeiten für den Kläger. Die Parteien einigten sich am 4. Mai 2001 auf eine Untersuchung durch den Betriebsarzt hinsichtlich der gesundheitlichen, insbesondere körperlichen Eignung des Klägers für eine in der Materialverwaltung zu besetzende Stelle. Am 18. Mai 2001 stellte der Betriebsarzt fest, gegen die Aufnahme einer Tätigkeit in der Materialverwaltung bestünden keine Bedenken. Der Kläger erklärte sich unter dem 21. Mai 2001 mit einer Versetzung zum 1. Juni 2001 einverstanden, wenn er bis zum 30. September 2001 – dem fiktiven Ablauf der Kündigungsfrist – seine bisherige Vergütung einschließlich der Sondervergütungen erhalte. Mit einer Vergütung zu den in der Materialverwaltung üblichen Konditionen – Eingruppierung in die Vergütungsgruppe TG III gegenüber bisher TG VI-VII – beginnend mit dem 1. Oktober 2001 erklärte er sich gleichfalls einverstanden.
Am 22. Mai 2001 beantragte die Beklagte beim Betriebsrat “S…”, der für einen von der Beklagten mit der SV S-V Baden-Württemberg Holding AG – nachfolgend: Holding – gemeinsam geführten Betrieb gewählt ist, die Zustimmung zur Versetzung des Klägers in die Materialverwaltung. Hilfsweise hörte sie ihn zu einer ordentlichen Beendigungskündigung an. Der Betriebsrat widersprach der Versetzung am 23. Mai 2001 per e-mail. Der Widerspruch wurde vom Betriebsratsvorsitzenden K… versandt. Er endet wie folgt: “Mit freundlichen Grüßen K…”. Auf dem Ausdruck der e-mail findet sich – jeweils handschriftlich – das Datum “25.5.01” sowie der Name “B…”.
Die Anhörungsfrist hinsichtlich der Beendigungskündigung ließ der Betriebsrat verstreichen. Eine erneute Anhörung der Beklagten zu einer Beendigungskündigung vom 4. Juli 2001 blieb unbeantwortet. Die Hauptfürsorgestelle hatte einer ordentlichen Beendigungskündigung des Klägers bereits unter dem 8. Juni 2001 zugestimmt. Der Bescheid ist inzwischen rechtskräftig.
Mit Schreiben vom 12. Juli 2001 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 2001.
Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Er sei weiterhin in der Lage, die Arbeit als Schadenssachbearbeiter zu erbringen. Das vom Arbeitsgericht insoweit eingeholte Sachverständigengutachten beruhe auf einem im Wesentlichen nicht bewiesenen Sachverhalt. Jedenfalls hätte er auf dem Arbeitsplatz in der Materialverwaltung weiterbeschäftigt werden können. Dies entspreche auch der Vereinbarung vom 4. Mai 2001. Im Übrigen übe er bereits seit 1996 nur noch Tätigkeiten aus, die dem Anforderungsprofil eines Versicherungskaufmanns entsprächen. Da die Beklagte und die SV Holding AG einen gemeinsamen Betrieb bildeten, sei unerheblich, dass der Arbeitsplatz in der Materialverwaltung der SV Holding AG zugeordnet sei. Die Beklagte hätte sich auch nicht mit der Zustimmungsverweigerung des Betriebsrats abfinden dürfen, sondern ein Zustimmungsersetzungsverfahren durchführen müssen. Eine solche Verpflichtung ergebe sich jedenfalls aus § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 12. Juli 2001 nicht aufgelöst wurde.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat die Beklagte vorgetragen, der Kläger könne wegen seiner psychischen Erkrankung, vor allem im Hinblick auf sein Verhalten gegenüber Kunden und Mitarbeitern nicht mehr als Sachbearbeiter eingesetzt werden. Dies ergebe sich aus dem vom Arbeitsgericht eingeholten Sachverständigengutachten. Eine Tätigkeit in der Materialverwaltung sei angesichts der Vorbildung des Klägers sowohl inhaltlich als auch der Bezahlung nach unangemessen. Die unterschiedliche Eingruppierung führe zu einer Vergütungsminderung von ca. 11.000,00 Euro jährlich. Sie habe dem Kläger auch nicht die Zusage einer entsprechenden Tätigkeit gemacht. Sie sei nicht verpflichtet, dem Kläger einen Arbeitsplatz in einem anderen Unternehmern zu vermitteln. Auch der Betriebsrat habe seine Skepsis gegen eine entsprechende Versetzung des Klägers gezeigt und zu Recht seine Zustimmung verweigert. Sie sei nicht verpflichtet, ein Zustimmungsersetzungsverfahren durchzuführen.
Jedenfalls sei das Arbeitsverhältnis aufzulösen. Der Kläger habe bewusst wahrheitswidrigen Vortrag gehalten und ihr gegenüber unberechtigte Vorwürfe erhoben.
Die Beklagte hat insoweit beantragt,
hilfsweise das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung gemäß §§ 9, 10 KSchG aufzulösen.
Der Kläger hat beantragt,
den Auflösungsantrag zurückzuweisen.
Der Auflösungsantrag sei unbegründet. Er habe die Beklagte weder beleidigt noch unwahre Tatsachenbehauptungen aufgestellt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und den Auflösungsantrag abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag, hilfsweise ihren Auflösungsantrag weiter.