BAG Urteil vom 17.08.2021 - 1 AZR 175/20
Entscheidungsstichwort (Thema)
Überstundenvergütung. Betriebsvereinbarungen zur Dauer der Arbeitszeit und zu Arbeitszeitkonten
Orientierungssatz
Die Unwirksamkeit einer gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstoßenden Betriebsvereinbarung über die dauerhafte Verlängerung der regelmäßigen Arbeitszeit kann zur Folge haben, dass eine zeitgleich geschlossene, mit der Arbeitszeitverlängerung aufgrund spezifischer Umstände untrennbar verknüpfte Betriebsvereinbarung über die Einführung von Arbeitszeitkonten gegenstandlos ist (Rn. 29 ff.).
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 3, § 87 Abs. 1 Nrn. 2-3; BGB §§ 133, 139-140, 151, 157, 242, 611 Abs. 1, § 611a Abs. 2, § 612; BUrlG § 11; EFZG §§ 3-4; ArbGG § 72 Abs. 5; ZPO § 287 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2, § 308 Abs. 1 S. 1, § 554 Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Urteil vom 23.10.2019; Aktenzeichen 19 Sa 1723/18) |
ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 13.11.2018; Aktenzeichen 5 Ca 51/18) |
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers und auf die Anschlussrevision der Beklagten - unter deren Zurückweisung im Übrigen - wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 23. Oktober 2019 - 19 Sa 1723/18 - im Kostenausspruch und insoweit aufgehoben, als das Landesarbeitsgericht hinsichtlich der Anträge zu 1. bis 4. (Überstundenvergütung für die Jahre 2014 bis 2017) die Berufung des Klägers und hinsichtlich des Hilfsantrags zu 6. (Überstundengutschrift auf Arbeitszeitkonto) die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 13. November 2018 - 5 Ca 51/18 - zurückgewiesen und hinsichtlich des Antrags zu 7. (Schichtzuschläge für das Jahr 2014) der Berufung des Klägers gegen das vorgenannte Urteil teilweise stattgegeben hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten im Wesentlichen über Arbeitsvergütung.
Rz. 2
Die Beklagte produziert in ihrem Betrieb in B Hydraulikkomponenten, Getriebeelemente und Klimamodule. Sie ist „Mitglied ohne Tarifbindung“ im Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen e. V. Der Kläger ist langjährig bei ihr und ihren Rechtsvorgängerinnen im gewerblichen Bereich tätig. In seinem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 12. Dezember 1996/3. Januar 1997 ist ua. niedergelegt, dass er „einen monatlichen Bruttomonatslohn auf der Basis von 156,60 Stunden“ erhält und er sich bereit erklärt, „in 2 bzw. 3 Schichten zu arbeiten“, wobei sich die „Arbeitszeit … nach den innerbetrieblichen Regelungen“ richtet.
Rz. 3
Mit dem im Betrieb gewählten Betriebsrat schloss eine der Rechtsvorgängerinnen der Beklagten die zum 1. Oktober 2003 in Kraft getretene „Rahmenbetriebsvereinbarung zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit am Standort B“ (RBV), welche auszugsweise lautet:
„1. |
Ziel |
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Ziel dieser Betriebsvereinbarung ist die langfristige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der L mit einer damit verbundenen weiteren Standortsicherung in B. |
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2. |
Maßnahmenkatalog |
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Dieses Ziel wird durch die Umsetzung aller nachfolgend genannten Einzelmaßnahmen realisiert: |
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Einführung der Teamarbeit … |
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Erhöhung der Wochenarbeitszeit (vgl. § 3) |
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- |
Einführung von Zeitkonten im gewerblichen Bereich (vgl. § 4) |
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- |
Alle Mitarbeiter erhalten zum 1. April 2004 eine garantierte Lohn- bzw. Gehaltserhöhung in Höhe von mindestens 1,3 %.... |
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3. |
Erhöhung der Wochenarbeitszeit |
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Mit Wirkung zum 1. Oktober 2003 beträgt die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit (IRWAZ) für alle Mitarbeiter 40 Stunden. Damit erhöht sich die regelmäßige tägliche Arbeitszeit um 30 Minuten auf 8,0 Stunden zzgl. der bisherigen unbezahlten Pausen. Die Erhöhung der Wochenarbeitszeit erfolgt ohne Lohnausgleich. |
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Einzelheiten werden in einer separaten Betriebsvereinbarung geregelt. |
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4. |
Einführung von Zeitkonten im gewerblichen Bereich |
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Für alle gewerblichen Mitarbeiter wird ein zeitlich unbefristetes Arbeitszeitkonto eingeführt. |
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Einzelheiten werden in einer separaten Betriebsvereinbarung geregelt. Die Arbeitszeitkonten werden zeitgleich mit der 40-Stunden-Woche eingeführt. |
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...“ |
Rz. 4
Außerdem schlossen die Betriebsparteien mit Wirkung zum 1. Oktober 2003 die „Betriebsvereinbarung zur Umsetzung der 40-Stunden-Woche und zur Einführung von Zeitkonten im gewerblichen Bereich am Standort B“ (BV). In dieser heißt es ua.:
„Zwischen der Geschäftsleitung und dem Betriebsrat der L GmbH & Co. KG wird die nachfolgende Betriebsvereinbarung zur Umsetzung der 40-Stunden-Woche und zur Einführung von Zeitkonten im gewerblichen Bereich am Standort B abgeschlossen. |
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1. |
Zielsetzung |
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Diese Betriebsvereinbarung hat zum Ziel, die Vorgaben aus der ‚Rahmenbetriebsvereinbarung zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit am Standort B‘ vom 15. Juli 2003 in Bezug auf die oben genannten Punkte umzusetzen. |
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… |
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3. |
Arbeitszeiten im gewerblichen Bereich für Stammmitarbeiter |
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Die Schichteinteilung im Rahmen der 40-Stunden-Woche erfolgt gemäß Anlage 1. Der Dreischichtbetrieb setzt sich grundsätzlich zusammen aus: |
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5 Frühschichten Montag bis Freitag à 7 ½ Std. zzgl. der bisherigen unbez. Pausen (45 Min.) |
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- |
5 Spätschichten Montag bis Freitag à 7 ½ Std. zzgl. der bisherigen unbez. Pausen (30 Min.) |
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- |
5 Nachtschichten Montag bis Freitag à 7 ¼ Std. zzgl. der bisherigen unbez. Pausen (30 Min.) |
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Darüber hinaus ist die Arbeit grundsätzlich innerhalb des Zeitfensters von sonntags 20:00 Uhr bis samstags 15:00 Uhr zulässig. In dieser Zeit ist es dem Mitarbeiter möglich, die Sollarbeitszeit von 40 Stunden auszugleichen. |
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Die Wahl der Ausgleichsarbeitszeit erfolgt in Absprache mit dem Vorgesetzten und unter Berücksichtigung der betrieblichen und gesetzlichen Belange. Es ist darauf zu achten, dass die Arbeitnehmerinteressen ebenso Berücksichtigung finden. |
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Der Ein- und Zweischichtbetrieb entspricht den Regelungen zur Früh- und Spätschicht. |
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4. |
Einführung von Zeitkonten im gewerblichen Bereich |
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4.1 Arbeitszeitkonten |
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Für alle gewerblichen Mitarbeiter wird ein zeitlich unbefristetes Arbeitszeitkonto eingeführt. Alle Arbeitszeiten der Mitarbeiter, die über der individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit (IRWAZ) liegen, werden dem Zeitkonto gutgeschrieben. Zeiten, die unterhalb der IRWAZ liegen, werden vom Guthabenkonto abgezogen bzw. dem Minusbereich hinzugerechnet. |
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Das Arbeitszeitkonto bewegt sich im Bereich von minus 40 Stunden bis plus 80 Stunden. |
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… |
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4.2 Zeitausgleich |
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Innerhalb und oberhalb des Guthabenbereichs können einzelne Mitarbeiter in Abstimmung mit dem Vorgesetzten und unter Berücksichtigung der betrieblichen Erfordernisse stunden- oder tageweise Gutzeiten abbauen. |
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… |
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4.3 Zeitzuschläge |
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Für Überstunden, die in den Guthabenbereich fließen, werden keine Grundstunden bzw. Mehrarbeitszuschläge ausbezahlt. Überstunden, die oberhalb des Guthabenbereichs anfallen, werden mit dem individuellen, aktuellen Stundensatz zzgl. einem Pauschalzuschlag von 25 % vergütet. |
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Zuschläge für Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit werden wie bisher vergütet. Auf Wunsch des Mitarbeiters können diese Zuschläge bis auf Widerruf auch in Zeit umgewandelt und mit dem Zeitkonto verrechnet werden. |
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...“ |
Rz. 5
Die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerinnen gewährten dem Kläger in den Jahren 2004 bis 2016 - außer 2007 und 2009 - jährliche Erhöhungen des sich aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammensetzenden Entgelts.
Rz. 6
Der Kläger arbeitete in den Jahren 2014 bis 2017 entsprechend den Vorgaben der RBV und BV in einer 40-Stunden-Woche, wobei er in diesem Zeitraum an mehreren Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt war. In den Jahren 2014 und 2017 nahm er an jeweils 30 Arbeitstagen, im Jahr 2015 an 28 Arbeitstagen und im Jahr 2016 an 32 Arbeitstagen Erholungsurlaub. Zudem beanspruchte er in den Jahren 2014 bis 2017 in unterschiedlichem Umfang sog. Gleittage. Darüber hinaus leistete er im Jahr 2014 Spät- und Nachtschichten sowie Sonntags- und Feiertagsarbeit, welche mit grundlohnbezogenen Zuschlägen iHv. 10 % für Spätschichten, 25 % für Nachtschichten und 70 % für Sonntagsarbeit sowie mit einem Feiertagszuschlag iHv. 150 % vergütet wurden.
Rz. 7
Mit seiner Klage hat der Kläger - soweit für die Revision noch von Bedeutung - die Zahlung von Vergütung für Überstunden in den Jahren 2014 bis 2017 einschließlich eines Zuschlags je Stunde iHv. 25 %, hilfsweise hierzu die Gutschrift dieser Überstunden auf seinem Arbeitszeitkonto, ferner die Feststellung des Umfangs seiner monatlichen Arbeitszeit iHv. 156,60 Stunden sowie die Gewährung höherer Zuschläge für Spät-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsschichten geltend gemacht.
Rz. 8
Er hat die Auffassung vertreten, Nr. 3 RBV sei wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam; maßgeblich sei seine vertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 156,60 Stunden im Monat. Die darüber hinausgehend erbrachten Überstunden seien - im Hinblick auf eine betriebliche Übung mit einem Zuschlag iHv. 25 % - zu vergüten. Zudem habe er Anspruch auf höhere Schichtzuschläge.
Rz. 9
Der Kläger hat zuletzt, soweit für die Revision von Bedeutung, beantragt,
1. |
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 6.879,60 Euro brutto nebst Zinsen hierauf iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2015 zu zahlen (Überstundenvergütung 2014); |
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2. |
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 6.892,60 Euro brutto nebst Zinsen hierauf iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2016 zu zahlen (Überstundenvergütung 2015); |
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3. |
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.404,80 Euro brutto nebst Zinsen hierauf iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2017 zu zahlen (Überstundenvergütung 2016); |
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4. |
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.116,20 Euro brutto nebst Zinsen hierauf iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. September 2017 zu zahlen (Überstundenvergütung 2017); |
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5. |
festzustellen, dass seine Arbeitszeit seit dem 1. Januar 2014 156,60 Stunden pro Monat beträgt und insbesondere die Spät-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschläge nach diesem Stundensatz zu berechnen sind; |
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6. |
hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit den Anträgen zu 1. bis 4. die Beklagte zu verurteilen, 832 Plusstunden in sein Arbeitszeitkonto einzustellen; |
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7. |
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 720,16 Euro brutto nebst Zinsen hierauf iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf 15,10 Euro seit dem 1. Februar 2014, auf weitere 30,16 Euro seit dem 1. März 2014, auf weitere 36,33 Euro seit dem 1. April 2014, auf weitere 28,59 Euro seit dem 1. Mai 2014, auf weitere 92,17 Euro seit dem 1. Juni 2014, auf weitere 76,75 Euro seit dem 1. Juli 2014, auf weitere 107,84 Euro seit dem 1. August 2014, auf weitere 136,98 Euro seit dem 1. September 2014, auf weitere 95,62 Euro seit dem 1. Oktober 2014, auf weitere 51,77 Euro seit dem 1. Dezember 2014 und auf weitere 48,85 Euro seit dem 1. Januar 2015 zu zahlen (Schichtzuschläge 2014). |
Rz. 10
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Ansicht vertreten, die regelmäßige Arbeitszeit des Klägers betrage nach Nr. 3 RBV 40 Stunden in der Woche. Bereits vor Inkrafttreten der RBV habe sie sich auf 37,5 Wochenstunden belaufen. Jedenfalls sei der Umfang der Arbeitszeit aufgrund der mehr als 14 Jahre andauernden aktiven Teilnahme an dem in der BV geregelten Arbeitszeitmodell konkludent geändert worden. Zudem habe der Kläger etwaige Ansprüche verwirkt.
Rz. 11
Das Arbeitsgericht hat dem Hilfsantrag zu 6. sowie dem Antrag zu 5. insoweit stattgegeben, als es festgestellt hat, dass die Arbeitszeit des Klägers 156,60 Stunden pro Monat beträgt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Berufung des Klägers - unter ihrer Zurückweisung im Übrigen - dem Antrag zu 7. iHv. 671,45 Euro nebst Zinsen stattgegeben.
Rz. 12
Mit seiner Revision verfolgt der Kläger die Anträge zu 1. bis 4. weiter, während die Beklagte mit ihrer Anschlussrevision die vollständige Klageabweisung erstrebt.