HI1440878

BAG Urteil vom 25.05.2005 - 5 AZR 347/04

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Leiterin einer Außenwohngruppe keine Arbeitnehmerin

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Leitsatz (amtlich)

Die Pflicht, öffentlich-rechtlichen Anordnungen der Aufsichtsbehörde im Jugendhilferecht nachzukommen, trifft jedermann. Sie ist kein Merkmal arbeitsvertraglicher Weisungsgebundenheit (Aufgabe von Senat 6. Mai 1998 – 5 AZR 347/97 – BAGE 88, 327).

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Orientierungssatz

Für den Arbeitnehmerstatus ist das unternehmerische Risiko unerheblich. Arbeitnehmer und Selbständige unterscheiden sich nach dem Grad der persönlichen Abhängigkeit. An die Stelle der persönlichen Abhängigkeit kann beim Selbständigen im Einzelfall eine wirtschaftliche Abhängigkeit vom Vertragspartner treten, die den Selbständigen als arbeitnehmerähnliche Person erscheinen lässt.

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Normenkette

BGB § 611; HGB § 84 Abs. 1; SGB VIII §§ 45-46, 79

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Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 11.05.2004; Aktenzeichen 5 Sa 503/03)

ArbG Lübeck (Urteil vom 25.09.2003; Aktenzeichen 1 Ca 1119 b/03)

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Tenor

  • Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 11. Mai 2004 – 5 Sa 503/03 – wird zurückgewiesen.
  • Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

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Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung und in diesem Zusammenhang über die Frage, ob zwischen ihnen ein Arbeitsverhältnis bestanden hat.

Die Klägerin ist staatlich geprüfte Hauswirtschaftsleiterin. Sie war zunächst beim Landesbetrieb Pflegen und Wohnen der beklagten H… als Reinigungsbeauftragte angestellt. Seit 1. November 1993 ist die Klägerin in diesem Arbeitsverhältnis beurlaubt. Auf Grund eines Dienstleistungsvertrags leitete sie für den Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung der Beklagten eine Außenwohngruppe in G… in Schleswig-Holstein. Der Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung ist eine Dienststelle der H… und Teil der Behörde für Familie und Soziales. Er besitzt keine eigene Rechtspersönlichkeit. Die zum Betrieb der Außenwohngruppe nach § 45 SGB VIII erforderliche Erlaubnis wurde der Beklagten vom zuständigen Land Schleswig-Holstein erteilt.

Die Beklagte bietet in ca. 60 Außenwohngruppen etwa 160 Plätze für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen an. Die Außenwohngruppen sollen für Minderjährige, die nicht in Pflegefamilien untergebracht werden können oder häufig schon in mehreren Pflegefamilien waren, dann aber bei Schwierigkeiten wieder “zurückgegeben” wurden, eine professionelle Betreuung im privaten Lebensraum mit wenigen Bezugspersonen und der Perspektive eines langjährigen Verbleibs bieten. Charakteristische Merkmale der Außenwohngruppen sind die Aufhebung der Trennung von Berufsrolle und Privatheit bei den Betreuerinnen und Betreuern und der Verzicht auf institutionelle Regeln. Hierdurch soll den Kindern ein normaler Alltag jenseits des traditionellen Heimalltags ermöglicht werden. Für die Kinderbetreuung in den Außenwohngruppen gibt es kein verbindliches pädagogisches Betreuungskonzept.

Die Beklagte hat unter Einbeziehung des Personalrats, der Gewerkschaften und der Sozialversicherung Ende der 80er Jahre einen Dienstleistungsvertrag erarbeitet, der insbesondere Angestellten der H… die Möglichkeit eröffnen sollte, Sonderurlaub zum Betreiben einer Außenwohngruppe zu erhalten. Berechnungsgrundlage der für die Leitung der Außenwohngruppe gewährten Honorare war zunächst die Vergütung eines Heimerziehers der VergGr. Vb BAT im Alter von 31 Jahren, verheiratet, zwei Kinder. Zu der nach dem BAT zu zahlenden Vergütung einschließlich Stellenzulage, Ortszuschlag, Heimdienstzulage und sonstiger Sozialzulagen wurden die Zuwendung nach dem Zuwendungstarifvertrag, das Urlaubsgeld sowie der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung unter Ausgleich des steuerlichen Nachteils durch die Pflicht zur Versteuerung dieses Arbeitgeberanteils hinzugerechnet. Auf den sich daraus ergebenden Monatsbetrag wurde ein Zuschlag von 35 % gewährt, mit dem insbesondere die über die normale 40-Stundenwoche hinausgehende Arbeitszeit ausgeglichen werden sollte. Die Vergütung wurde auch bei persönlicher Verhinderung bezahlt. Im Jahre 1996 betrug die Vergütung der Klägerin 7.059,94 DM, zuletzt belief sie sich auf Grund einer Anhebung der zugrunde liegenden Vergütungsgruppe auf rund 4.000,00 Euro.

In dem Dienstleistungsvertrag der Klägerin vom 22. Oktober 1993 in der Fassung der Änderung vom 24. Januar 1996 ist Folgendes vereinbart:

“I.

(1) Der/Die AuftragnehmerIn übernimmt gemeinsam mit … die Betreuung einer selbständigen Außenwohngruppe mit 2 Minderjährigen.

(2) Die Tätigkeit wird freiberuflich ausgeführt; ein Arbeitsverhältnis wird nicht begründet.

(3) Der Umfang der zeitlichen Inanspruchnahme richtet sich nach dem Erziehungs- und Betreuungsbedarf der Betreuten. Der/Die AuftragnehmerIn setzt ihre ganze Kraft für die Erfüllung der Erziehungsaufgabe ein.

II.

Der/Die AuftragnehmerIn übernimmt folgende Verpflichtungen:

(1) Er/Sie beschafft gemeinsam mit dem/der anderen BetreuerIn Wohnraum (Einzelhaus, Reihenhaus, Wohnung etc.) und lebt darin in Gemeinschaft mit den Betreuten und dem/der anderen BetreuerIn.

Über den Wohnort der Außenwohngruppe ist Einvernehmen mit der Auftraggeberin zu erzielen.

(2) Er/Sie gewährt den Minderjährigen auf der Grundlage des Konzeptes über die Erziehung in Außenwohngruppen eine familienähnliche Erziehung mit dem Ziel, sie bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres zu einem selbständigen Leben in der Gesellschaft zu befähigen.

Er/Sie bestimmt gemeinsam mit dem/der anderen BetreuerIn über die Ausgestaltung der Arbeit, soweit hierüber in einer Anlage zu diesem Vertrag nichts Näheres vereinbart ist.

Er/Sie ist in den vorstehend beschriebenen Angelegenheiten an Weisungen der Auftraggeberin nicht gebunden. Die Rechte der Heimaufsicht nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz bleiben unberührt.

(3) Er/Sie arbeitet mit den von der Auftraggeberin benannten Dienststellen des Amtes für Jugend zusammen. Er/Sie berichtet auf Anforderung der von der Auftraggeberin als zuständig benannten Dienststelle über die Entwicklung der Minderjährigen und über andere besondere Vorkommnisse.

(6) Er/Sie verpflichtet sich, Tätigkeiten neben der vereinbarten Betreuungstätigkeit nur in vorheriger Absprache mit der Auftraggeberin und dem/der anderen AuftragnehmerIn auszuüben.

III.

Die Auftraggeberin übernimmt folgende Verpflichtungen:

(3) Sie zahlt dem/der AuftragnehmerIn für die Dauer des Bestehens der Wohngemeinschaft unter seiner/ihrer Leitung auch bei persönlicher Verhinderung (z.B. Kur, Krankheit usw.) eine Vergütung; sie beträgt z. Zt. 7.059,94 DM monatlich.

(4) Die Vergütung wird ohne Abzüge gezahlt.

Dem/Der AuftragnehmerIn obliegt die Beachtung steuerrechtlicher Verpflichtungen.

Hinsichtlich der Sozialversicherungspflicht verpflichtet sich der/die AuftragnehmerIn, vom anliegenden Merkblatt Kenntnis zu nehmen.

Der/Die AuftragnehmerIn verpflichtet sich auch dann, wenn die gesetzliche Verpflichtung nicht besteht, auf der Grundlage der monatlichen Vergütung freiwillig Beiträge zur Angestelltenversicherung zu entrichten.

Neben der Vergütung erhält der/die AuftragnehmerIn zusammen mit dem/der unter I.(1) genannten anderen AuftragnehmerIn folgende Zahlungen als Kostenersatz:

(5) – Ersatz für die Kosten der Unterkunft –

Der/Die AuftragnehmerIn erhält Kostenersatz für die Unterbringung der Betreuten in Höhe der anteilig angemessenen Kosten des Wohnraums einschließlich sämtlicher Nebenkosten (Heizung, Strom, Gas, Wasser, Reinigung, Müllabfuhr, Fernsehen etc.) bis zur Höhe von z. Zt. maximal 600,00 DM je Platz und Monat.

(6) – Ersatz für die Beschäftigung von Haushaltshilfen –

Der/Die AuftragnehmerIn erhält Kostenersatz in Höhe der notwendigen Aufwendungen zur dauernden Beschäftigung einer Haushaltshilfe mit 8 Wochenstunden. Der genaue Betrag wird von der Auftraggeberin jährlich festgesetzt.

(7) – Ersatz für die Beschäftigung von Vertretungskräften in 3'er Außenwohngruppen –

Für die Beschäftigung von Vertretungskräften zur Betreuung der Minderjährigen erhält der/die AuftragnehmerIn einen Betrag von z. Zt. bis zu 1.764,99 DM pro Monat.

Der/Die AuftragnehmerIn hat der Auftraggeberin

a) den Namen und die Adresse der Vertretungskraft

b) den zeitlichen Umfang der Vertretung in Stunden und

c) die Höhe der gezahlten Vergütung (einschließlich evtl. anfallender Arbeitgeberanteile)

mitzuteilen und auch hierfür prüfungsfähige Belege für die Dauer des Dienstvertrages bei sich aufzubewahren.

IV.

(1) Das Vertragsverhältnis ist bis 31.10.1998 befristet. Es verlängert sich um 5 Jahre, wenn es nicht bis spätestens 6 Monate vor Ablauf von dem/der AuftragnehmerIn oder der Auftraggeberin gekündigt wird. …

Vor Fristablauf kann nur aus wichtigem Grund gekündigt werden.

V.

(Nur für Außenwohngruppen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern)

(1) Der/Die AuftragnehmerIn gilt als verantwortlicher Leiter im Sinne von § 5 Abs. 1 KJVO Schleswig-Holstein/Ziffer 15 Abs. 1 Heimrichtlinien Niedersachsen/§ 34 SGB VIII (Heime) Mecklenburg-Vorpommern in der jeweilsgültigen Fassung.

(4) Werden von der zuständigen Behörde Schleswig-Holsteins/Niedersachsens/Mecklenburg-Vorpommerns im Rahmen des Erlaubnisverfahrens bzw. im Rahmen der Heimaufsicht rechtswirksam Anordnungen über die baulichen Gegebenheiten erteilt, so hat der/die AuftragnehmerIn für die Erfüllung Sorge zu tragen.

Werden von der zuständigen Behörde im Rahmen der Heimaufsicht rechtswirksam Anordnungen über Art und Durchführung des Betriebes erteilt, so hat der/die AuftragnehmerIn für die Erfüllung gleichfalls Sorge zu tragen.

– Anhang zum DIENSTLEISTUNGSVERTRAG –

Die Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen AuftragnehmerIn und Auftraggeberin werden einvernehmlich wie folgt geregelt:

1. Koordinierende Stelle der Auftraggeberin für alle Fragen, die sich aus dem Vertragsverhältnis ergeben, ist der Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung.

2. Diese Abteilung hat einen Arbeitskreis ‘Außenwohngruppen’ eingerichtet, der sich zu regelmäßigen monatlichen Besprechungen trifft. In diesen Besprechungen werden Fragen von grundsätzlicher Bedeutung gemeinsam geklärt. Aus jeder Außenwohngruppe nimmt ein/eine BetreuerIn in Absprache mit ihrem/seiner PartnerIn teil.

4. Beendigung der Betreuung eines Jugendlichen und Aufnahme neuer Minderjähriger erfolgen nur einvernehmlich.

6. Ansonsten berichtet der/die AuftragnehmerIn der Auftraggeberin mindestens in jährlichen Abständen über das Wohlergehen der Minderjährigen und die weitere Erziehungsplanung. Bei besonderen Anlässen wird sofort informiert.

8. Die Honorare und die Kostenersatzbeträge werden jeweils in der letzten Woche des Vormonats auf ein für die Außenwohngruppe einzurichtendes besonderes Girokonto überwiesen.

10. Die Außenwohngruppe ist frei in der Verwendung dieser Mittel. Sie legt hierüber jedoch – unbeschadet eventueller weitergehender steuerrechtlicher Notwendigkeiten – der Auftraggeberin in Form einer vereinfachten Buchführung Rechnung.

11. Alle eingehenden Rechnungen bzw. sonstigen Zahlungen begründende Unterlagen sowie Quittungen hebt der/die AuftragnehmerIn mindestens 5 Jahre in geordneter Form für die Auftraggeberin zur Einsichtnahme auf.

…”

Im Rahmen einer im Jahre 1999 begonnenen Betriebsprüfung vertrat die Landesversicherungsanstalt die Auffassung, die Leiter der Außenwohngruppen seien Beschäftigte der Beklagten. Dies wurde für die Klägerin im Widerspruchsbescheid der Landesversicherungsanstalt vom 21. März 2002 festgestellt. Dieser Widerspruchsbescheid wurde bestandskräftig, nachdem die Beklagte mit der Landesversicherungsanstalt im sozialgerichtlichen Verfahren am 19. August 2002 einen umfassenden außergerichtlichen Vergleich geschlossen hatte, in dem sie sich für die Jahre 1994 bis 2001 zur Zahlung von insgesamt rund 4.250.000,00 Euro für alle Leiter der Außenwohngruppen verpflichtete.

Mit Schreiben vom 4. März 2003, das der Klägerin am 17. März 2003 zuging, kündigte die Beklagte das Vertragsverhältnis zum 31. Oktober 2003. Hiergegen hat sich die Klägerin mit ihrer am 28. März 2003 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage gewandt.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, zwischen ihr und der Beklagten habe ein Arbeitsverhältnis bestanden. Sie sei weisungsgebunden tätig gewesen, denn die Beklagte hätte Auflagen der Heimaufsicht durch Einzelweisungen durchsetzen können. Sie sei in der Bestimmung der Arbeitszeit nicht frei gewesen. Auf Grund der Arbeitsaufgabe habe sie an sieben Tagen in der Woche 24 Stunden zu arbeiten gehabt. Urlaub habe sie nur in den Schulferien nehmen können. Sie habe den Wohnort der Außenwohngruppe nicht verlegen können, weil sich die Betriebserlaubnis auf den jeweiligen Standort beziehe und bei einem Ortswechsel erloschen wäre. In Schleswig-Holstein hätte sie – unstreitig – wegen nicht ausreichender Qualifikation keine eigene Betriebserlaubnis erhalten. Beim Einsatz von Vertretern habe sich die Beklagte ein Mitentscheidungsrecht vorbehalten. Sie sei in die Betriebsorganisation der Beklagten eingebunden gewesen, weil die etwa 60 Außenwohngruppen Teil der Beklagten seien. Ein unternehmerisches Risiko habe sie nicht getragen. Die zur Betreuung erforderlichen Aufwendungen seien ersetzt worden. Die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses sei sozial ungerechtfertigt iSv. § 1 KSchG, eine vorherige Unterrichtung des Personalrats sei nicht erfolgt. Die Kündigung sei deshalb unwirksam.

Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auf der Grundlage des Vertrags vom 24. Januar 1996 durch die Kündigung der Beklagten vom 4. März 2003 nicht beendet wurde.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei wirksam. Zwischen den Parteien habe kein Arbeitsverhältnis bestanden. Die Klägerin sei selbständig tätig gewesen. Sie habe ihre Zeit frei einteilen und über ihre Freizeit disponieren können. Die Klägerin habe die gesetzlichen Vorschriften des Jugendhilferechts beachten müssen, weitergehende Weisungen habe sie der Klägerin nicht erteilt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag weiter.