BAG Urteil vom 27.08.2020 - 8 AZR 62/19
Entscheidungsstichwort (Thema)
Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. erfolglose/r Bewerber/in. Benachteiligung wegen der Religion. Kopftuchverbot. Lehrkraft
Leitsatz (amtlich)
Die Regelung in § 2 Berliner NeutrG, wonach es Lehrkräften und anderen Beschäftigten mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen ohne weiteres ua. verboten ist, innerhalb des Dienstes auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke, mithin auch ein islamisches Kopftuch zu tragen, ist, sofern das Tragen dieses Kleidungsstücks nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist, verfassungskonform dahin auszulegen, dass sie das Tragen des Kopftuchs innerhalb des Dienstes nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität verbietet.
Orientierungssatz
1. Das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs fällt als Bekundung des religiösen Glaubens unter den Begriff der Religion iSv. § 1 AGG (Rn. 39 f.).
2. § 2 Berliner NeutrG*, wonach es Lehrkräften und anderen Beschäftigten mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen ua. verboten ist, innerhalb des Dienstes auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke, mithin auch ein sog. islamisches Kopftuch zu tragen, enthält eine berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG, die sich nicht nur im Rahmen eines mit einer Lehrkraft bereits bestehenden Beschäftigungsverhältnisses, sondern auch im Rahmen eines Auswahl- bzw. Stellenbesetzungsverfahrens auswirken kann (Rn. 56).
3. Eine Regelung, die – wie § 2 Berliner NeutrG* – das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs ohne weiteres, dh. wegen der abstrakten Gefahr einer Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität verbietet, ist nach den vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 27. Januar 2015 (– 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – BVerfGE 138, 296) aufgestellten Grundsätzen, an die der Senat nach § 31 Abs. 1 BVerfGG gebunden ist, mit Blick auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Lehrkraft dann unangemessen und damit unverhältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist (Rn. 57 ff.).
4. Ein angemessener Ausgleich der gegenläufigen verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte nach Art. 4 Abs. 1 GG, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern nach Art. 4 Abs. 1 GG, des Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG und des staatlichen Erziehungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG, der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulicher und religiöser Neutralität zu erfüllen ist – erfordert eine verfassungskonforme Auslegung von § 2 Berliner NeutrG* dahin, dass diese Bestimmung das Tragen eines islamischen Kopftuchs innerhalb des Dienstes nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität verbietet, sofern das Tragen dieses Kleidungsstücks nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist (Rn. 57, 66 ff.).
5. Da es den Regelungen in §§ 2 bis 4 Berliner NeutrG an der unionsrechtlich erforderlichen Kohärenz fehlt, kann einer solchen verfassungskonformen Auslegung von § 2 Berliner NeutrG* nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, diese Bestimmung stehe mit den Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG sowie von Art. 10 Abs. 1 und Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Einklang (Rn. 73 ff.).
Normenkette
EMRK Art. 9; Charta der Grundrehte der Europäishen Union Art. 10 Abs. 1, Art. 24, 52 Abs. 3; AEUV Art. 267 Abs. 3; Richtlinie 2000/78/EG Art. 1, 2 Abs. 2 Buchst. a, b, Art. 4 Abs. 1; GG Art. 4, 6 Abs. 2, Art. 7 Abs. 1; AGG §§ 1, 3 Abs. 1-2, §§ 6, 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 15 Abs. 2, 4, § 22; ArbGG § 61b Abs. 1; BVerfGG § 16 Abs. 1, § 31 Abs. 1; Berliner NeutrG §§ 2-4; Berliner SchulG § 17 Abs. 1, 3, § 41 Abs. 3, § 42 Abs. 4
Verfahrensgang
LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 27.11.2018; Aktenzeichen 7 Sa 963/18) |
ArbG Berlin (Urteil vom 24.05.2018; Aktenzeichen 58 Ca 7193/17) |
Tenor
Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. November 2018 - 7 Sa 963/18 - wird zurückgewiesen.
Die Anschlussrevision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. November 2018 - 7 Sa 963/18 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten darüber, ob das beklagte Land verpflichtet ist, an die Klägerin eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Benachteiligung wegen der Religion zu zahlen.
Rz. 2
Die Klägerin ist Diplom-Informatikerin. Sie bezeichnet sich als gläubige Muslima und trägt als Ausdruck ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Die Klägerin bewarb sich beim beklagten Land im Rahmen eines Quereinstiegs mit berufsbegleitendem Referendariat auf eine Stelle als Lehrerin in den Fächern Informatik und Mathematik in der Integrierten Sekundarschule (ISS), dem Gymnasium oder der beruflichen Schule. Sie teilte ferner mit, dass sie regional für einen Einsatz in den Bezirken „Mitte“, „Friedrichshain-Kreuzberg“, „Tempelhof-Schöneberg“, „Neukölln“ sowie „Treptow-Köpenick“ zur Verfügung stehe.
Rz. 3
Mit E-Mail vom 3. Januar 2017 lud das beklagte Land die Klägerin „im Rahmen der Auswahlverfahren für unbefristete Einstellungen in den Berliner Schuldienst“ zu einem Bewerbungsgespräch am 11. Januar 2017 ein. Während des Bewerbungsgesprächs trug die Klägerin ein Kopftuch. Als die den Raum verließ, sprach sie der Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle S auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz an, wobei der genaue Inhalt dieses Gesprächs zwischen den Parteien streitig ist. Die Klägerin erklärte daraufhin, sie werde das Kopftuch im Unterricht nicht ablegen.
Rz. 4
Das Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin vom 27. Januar 2005 (sog. Berliner Neutralitätsgesetz, im Folgenden Berliner NeutrG) hat ua. folgenden Wortlaut:
„Präambel |
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Alle Beschäftigten genießen Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Keine Beschäftigte und kein Beschäftigter darf wegen ihres oder seines Glaubens oder ihres oder seines weltanschaulichen Bekenntnisses diskriminiert werden. Gleichzeitig ist das Land Berlin zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet. Deshalb müssen sich Beschäftigte des Landes Berlin in den Bereichen, in denen die Bürgerin oder der Bürger in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen ist, in ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis zurückhalten. |
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… |
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§ 2 |
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Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht. |
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§ 3 |
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§ 2 Satz 1 findet keine Anwendung auf die beruflichen Schulen im Sinne von § 17 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 des Schulgesetzes sowie auf Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs im Sinne von § 17 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 des Schulgesetzes. Die oberste Dienstbehörde kann für weitere Schularten oder für Schulen besonderer pädagogischer Prägung Ausnahmen zulassen, wenn dadurch die weltanschaulich-religiöse Neutralität der öffentlichen Schulen gegenüber Schülerinnen und Schülern nicht in Frage gestellt und der Schulfrieden nicht gefährdet oder gestört wird. |
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§ 4 |
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Für Beamtinnen und Beamte im Vorbereitungsdienst und andere in der Ausbildung befindliche Personen können Ausnahmen von den §§ 1 und 2 zugelassen werden. Die beamtenrechtliche Entscheidung trifft die Dienstbehörde, die Entscheidung in den übrigen Fällen die jeweils zuständige Personalstelle.“ |
Rz. 5
Nachdem die Klägerin vom beklagten Land in der Folgezeit weder eine Zu- noch eine Absage erhalten hatte, machte sie diesem gegenüber mit Schreiben vom 10. März 2017 einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Benachteiligung wegen ihrer Religion geltend. Das beklagte Land antwortete hierauf nicht.
Rz. 6
Mit ihrer am 9. Juni 2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen und dem beklagten Land am 15. Juni 2017 zugestellten Klage hat die Klägerin ihr auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG gerichtetes Begehren weiterverfolgt, wobei die Entschädigung nicht unter drei auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Bruttomonatsgehältern liegen sollte.
Rz. 7
Die Klägerin hat behauptet, das beklagte Land habe sie entgegen den Vorgaben des AGG benachteiligt. Sie sei wegen ihres Kopftuchs und damit wegen ihrer Religion nicht eingestellt worden. Anlässlich des Bewerbungsgesprächs am 11. Januar 2017 habe sie der Mitarbeiter der zentralen Bewerbungsstelle S ausdrücklich auf ihr Kopftuch angesprochen und gesagt: „Sie wissen, dass das Tragen eines Kopftuchs an einer öffentlichen Schule verboten ist. Die anderen Kolleginnen machen das so, dass sie es ablegen. Wie wollen Sie das machen?“ Sie habe daraufhin erklärt, dass sie nicht bereit sei, das Kopftuch abzulegen. Zudem habe sie darauf hingewiesen, dass Referendarinnen im berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst mit Kopftuch unterrichten würden, was nicht verboten sei. Herr S habe hierauf erwidert, dass eine Einstellung mit Kopftuch nicht möglich sei.
Rz. 8
Die Benachteiligung wegen ihrer Religion sei auch nicht ausnahmsweise zulässig. Die Anforderung an Lehrkräfte, im Dienst keine auffallenden religiös geprägten Kleidungsstücke zu tragen, stelle keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG dar. Das beklagte Land könne sich zur Rechtfertigung der Benachteiligung nicht mit Erfolg auf § 2 Berliner NeutrG stützen. Das darin enthaltene Verbot, innerhalb des Dienstes ein islamisches Kopftuch zu tragen, verstoße gegen Art. 4 GG. Die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 27. Januar 2015 (- 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 -) geforderte hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität habe das beklagte Land nicht dargetan. Konkrete Konflikte an den Berliner Schulen seien nicht benannt worden. Solche seien auch nicht im Rahmen der Beschäftigung von Referendarinnen mit Kopftuch aufgetreten. Jedenfalls falle sie als Quereinsteigerin mit berufsbegleitendem Referendariat unter die Ausnahmeregelung des § 4 Berliner NeutrG.
Rz. 9
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
das beklagte Land zu verurteilen, an sie eine angemessene Entschädigung wegen einer Benachteiligung wegen der Religion zu zahlen, deren genaue Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird. |
Rz. 10
Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat behauptet, die Klägerin sei nicht deshalb nicht eingestellt worden, weil sie ein Kopftuch getragen habe, sondern weil es für die Region, die sie als gewünschten Einsatzort genannt habe, für die an den Berufsbildenden Schulen zu besetzenden Stellen mit dem Fach Informatik ausreichend Laufbahnbewerber gegeben habe. Zwei mit der Klägerin vergleichbare Quereinsteiger seien für eine andere Region eingestellt worden. Der Mitarbeiter der zentralen Bewerbungsstelle S habe die Klägerin am 11. Januar 2017 neutral und ohne Bezug auf eine konkrete Stelle beim Hinausbegleiten auf die Rechtslage nach dem Berliner NeutrG im Hinblick auf das Kopftuch hingewiesen. Eine Absage habe die Klägerin deshalb nicht erhalten, weil die Bewerber/innen, die zunächst nicht ausgewählt worden seien, ggf. im Nachrückverfahren Berücksichtigung gefunden hätten. Dass man der Klägerin keine Absage erteilt habe, sei zwar ein Fehler gewesen, aber nicht mit böser Absicht geschehen, sondern habe der damaligen Praxis entsprochen.
Rz. 11
Jedenfalls wäre eine Nichtberücksichtigung der Klägerin wegen ihres Kopftuchs nach dem Berliner NeutrG auch gerechtfertigt gewesen. Die in § 2 Berliner NeutrG geregelte Verpflichtung der Lehrkräfte, im Dienst keine auffallenden religiös geprägten Kleidungsstücke zu tragen, stelle eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG dar. § 2 Berliner NeutrG sei verfassungsgemäß und unionrechtskonform; des Nachweises einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität bedürfe es nicht. Angesichts der Vielzahl von Nationen und Religionen, die in der Stadt vertreten seien, sei eine strikte Neutralität im Unterricht aus präventiven Gründen erforderlich. Dies verdeutliche ein Appell der Berliner Schulleiter und Schulleiterinnen sowie der Gewerkschaft, die sich für einen Erhalt des Gesetzes eingesetzt hätten. Empirisches Material über Konfliktsituationen wegen des Tragens eines Kopftuchs an Berliner Schulen sei zwar nicht vorhanden; insoweit lägen lediglich Zeitungsartikel und Berichte direkt aus den Schulen vor. Aus einzelnen Hilferufen aus Berliner Brennpunktschulen werde aber deutlich, dass sich dort muslimische Mädchen und Jungen gegenseitig als bessere oder schlechtere Muslime mobbten und bedrohten. Ggf. müsse ein Sachverständigengutachten über die Gefahrenlage eingeholt werden. Sofern das Berliner NeutrG als nicht verfassungsgemäß erachtet werden sollte, sei eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht erforderlich. Eine verfassungskonforme Auslegung dieses Gesetzes komme nicht in Betracht.
Rz. 12
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung iHv. 5.159,88 Euro verurteilt. Mit der Revision verfolgt das beklagte Land sein Begehren nach vollständiger Klageabweisung weiter. Die Klägerin begehrt mit der Anschlussrevision die Zahlung einer höheren Entschädigung.