BAG Urteil vom 28.05.2020 - 8 AZR 170/19
Entscheidungsstichwort (Thema)
Benachteiligung nach dem AGG. Funktionen der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Verschuldensunabhängigkeit. Höhe der Entschädigung. Berücksichtigung eines höheren Grads von Verschulden. Befristung der Stelle nicht berücksichtigungsfähig. Ermessensspielraum des Tatsachengerichts. Kappungsgrenze. Anknüpfungspunkt für die Bemessung der Entschädigung bei Nichteinstellung (§ 15 Abs. 2 AGG iVm. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG)
Leitsatz (amtlich)
1. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG hat eine Doppelfunktion. Sie dient einerseits der vollen Schadenskompensation und andererseits der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist.
2. Bei der Bestimmung der angemessenen Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden nach § 15 Abs. 2 AGG steht den Tatsachengerichten nach § 287 Abs. 1 ZPO ein weiter Ermessensspielraum zu. Die Festsetzung der angemessenen Entschädigung durch das Tatsachengericht unterliegt infolgedessen nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle. Das Revisionsgericht kann lediglich überprüfen, ob das Berufungsgericht die Rechtsnorm zutreffend ausgelegt, ein Ermessen ausgeübt, die Ermessensgrenze nicht überschritten hat und ob es von seinem Ermessen einen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, indem es sich mit allen für die Bemessung der Entschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.
Orientierungssatz
1. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, wonach der oder die Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen kann, hat eine Doppelfunktion. Sie dient sowohl der vollen Schadenskompensation als auch der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist (Rn. 18 f.).
2. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG ist verschuldensunabhängig und setzt deshalb keine Benachteiligungsabsicht voraus. Weder kommt es auf Verschulden als Voraussetzung an, noch ist ein fehlendes Verschulden oder ein geringer Grad des Verschuldens des Arbeitgebers bei der Bemessung der Entschädigung zulasten der benachteiligten Person bzw. zugunsten des benachteiligenden Arbeitgebers berücksichtigungsfähig. Sind jedoch Umstände erkennbar, die einen höheren Grad von Verschulden des Arbeitgebers belegen, kann Veranlassung bestehen, die Entschädigung höher festzusetzen (Rn. 20 f., 39).
3. Der Umstand der zeitlichen Befristung einer ausgeschriebenen Stelle hat für die Bemessung der Entschädigung keine Bedeutung und darf deshalb bei deren Bemessung nicht berücksichtigt werden (Rn. 36 f.).
4. Den Tatsachengerichten steht nach § 287 Abs. 1 ZPO bei der Bestimmung der angemessenen Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG für den erlittenen immateriellen Schaden ein weiter Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen die Besonderheiten jedes Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Demzufolge unterliegt diese Festsetzung nur einer eingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht: Zu überprüfen ist ausschließlich, ob die Rechtsnorm zutreffend ausgelegt, ein Ermessen ausgeübt, die Ermessensgrenze nicht überschritten wurde und ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen einen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, indem es sich mit allen für die Bemessung der Entschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen (Rn. 27 f.).
5. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, gibt keinen Rahmen für die Bemessung der Entschädigung vor, sondern eine Kappungs- bzw. Höchstgrenze (Rn. 22).
6. Bei der Bemessung der Entschädigung iSv. § 15 Abs. 2 AGG ist im Fall einer Nichteinstellung an das Bruttomonatsentgelt anzuknüpfen, das der/die erfolglose Bewerber/in erzielt bzw. ungefähr erzielt hätte, wenn er/sie die ausgeschriebene Stelle erhalten hätte. Auch dies folgt aus § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG. Abgesehen davon, dass das wegen der Nichteinstellung entgangene Arbeitsentgelt ein möglicher Schadensposten im Rahmen eines auf den Ausgleich materieller Schäden nach § 15 Abs. 1 AGG gerichteten Schadensersatzanspruchs sein kann, hat das Arbeitsentgelt im Fall einer Nichteinstellung auch für den Ausgleich des immateriellen Schadens Bedeutung. Soweit es um den Zugang zur Beschäftigung geht, ist die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nämlich nicht nur eine Sanktion für die nicht erhaltene Chance zur Entfaltung der individuellen Persönlichkeit durch eine bestimmte Beschäftigung, sondern ebenso eine Sanktion für die nicht erhaltene Chance, ein Arbeitseinkommen zu erzielen, wodurch der/die erfolglose Bewerber/in in seinem/ihrem Geltungs- bzw. Achtungsanspruch betroffen ist. In beiden Fällen ist nicht der materielle, sondern der immaterielle Teil des Persönlichkeitsrechts betroffen. Die Anknüpfung an das auf der ausgeschriebenen Stelle (ungefähr) zu erwartende Bruttomonatsentgelt steht auch mit den unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang (Rn. 24 ff.).
Normenkette
AGG § 15 Abs. 1-2, § 22; SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung a.F. § 71 Abs. 1; SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung a.F. § 71 Abs. 3; SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung a.F. § 82 S. 2; BGB § 253; ZPO § 287 Abs. 1; Richtlinie 76/207/EWG; Richtlinie 2000/78/EG; Richtlinie 2006/54/EG
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Urteil vom 16.01.2019; Aktenzeichen 14 Sa 246/18) |
ArbG Hannover (Urteil vom 26.01.2018; Aktenzeichen 13 Ca 69/17 Ö) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird - unter Zurückweisung der Revision des Klägers im Übrigen - das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 16. Januar 2019 - 14 Sa 246/18 - im Kostenpunkt vollständig und im Übrigen teilweise aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird - unter Zurückweisung der Berufung des Klägers im Übrigen - das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 26. Januar 2018 - 13 Ca 69/17 Ö - teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger insgesamt 5.100,00 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 1.000,00 Euro seit dem 19. April 2017 und aus weiteren 4.100,00 Euro seit dem 7. Juni 2017 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz - unter Zugrundelegung eines Streitwerts iHv. 49.230,00 Euro - haben der Kläger 90 vH und die Beklagte 10 vH zu tragen.
Von den Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens - unter Zugrundelegung eines Streitwerts iHv. jeweils 9.846,00 Euro - haben der Kläger und die Beklagte jeweils 50 vH zu tragen.
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz noch über die Höhe der dem Kläger von der Beklagten nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung geschuldeten Entschädigung.
Rz. 2
Die Beklagte ist eine gesetzliche Krankenkasse. Sie beschäftigt seit Jahren auf mehr als fünf Prozent der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen. Im Frühjahr 2017 schrieb sie für ihr Team im Bereich Gesundheitsmanagement in Oldenburg (Niedersachsen) eine Stelle als „Mitarbeiter DRG-Abrechnung und Qualitätssicherung (m/w)“ aus. In der Stellenausschreibung heißt es ua.:
„Ihre Bewerbung |
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Die Vollzeitstelle (38,5 Stunden) ist zunächst auf zwei Jahre befristet mit der Option auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag. |
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… |
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Bewerbungen von Schwerbehinderten sind ausdrücklich erwünscht.“ |
Rz. 3
Der Kläger, der ua. langjährig als medizinischer Dokumentations-Assistent in einer Klinik sowie am Lehrstuhl für Orthopädie der Universität W tätig war und der ein Intensivseminar DRG-Dokumentar absolviert hatte, bewarb sich mit Schreiben vom 13. März 2017 auf die ausgeschriebene Stelle. Seine Bewerbungsunterlagen waren mit einem deutlichen Hinweis darauf versehen, dass er mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehindert ist.
Rz. 4
Die Vergütung auf der ausgeschriebenen Stelle hätte für den Kläger nach der Entgeltgruppe 8 Stufe 2 des bei der Beklagten geltenden Entgelttarifvertrags 3.383,00 Euro brutto monatlich betragen.
Rz. 5
Die Beklagte lud den Kläger im Folgenden nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein. Mit E-Mail vom 19. April 2017 teilte sie ihm mit:
„Sehr geehrter Herr M, |
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wir bedanken uns herzlich für Ihr Interesse und Ihr Vertrauen, dass Sie uns mit Ihrer Bewerbung entgegengebracht haben. Uns ist bewusst, dass Sie mit Ihrer Bewerbung Erwartungen und Hoffnungen verbunden haben. Leider hat es dieses Mal jedoch nicht geklappt. |
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Warum ist unsere Entscheidung so ausgefallen? Wir vergleichen das Anforderungsprofil der Stelle mit den persönlichen Profilen aller Bewerber sehr sorgfältig. Dabei haben wir darauf geachtet, wer am ehesten unserem Profil entspricht. Häufig sind es dann nur Nuancen, die den Ausschlag für unsere Auswahl geben. |
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Wir hoffen, dass Sie die A in positiver Erinnerung behalten. Auf unserem Karriereportal unter … finden Sie immer wieder neue interessante Stellenangebote. Bewerben Sie sich wieder! Wir freuen uns darauf! |
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Bis dahin wünschen wir Ihnen für Ihre berufliche und persönliche Zukunft alles Gute und viel Erfolg. |
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Mit freundlichen Grüßen |
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…“ |
Rz. 6
Der Kläger hat mit seiner Klage einen Anspruch auf Ersatz eines materiellen Schadens iHv. 39.384,00 Euro geltend gemacht und hilfsweise die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. 9.846,00 Euro verlangt. Sodann hat er den Antrag auf Zahlung einer Entschädigung als weiteren Hauptantrag weiterverfolgt. Den Antrag auf Zahlung von Schadensersatz iHv. 39.384,00 Euro hat er schließlich in der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht zurückgenommen.
Rz. 7
In dem Protokoll über die Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht am 14. Juni 2017 heißt es auszugsweise:
„Der Beklagten-Vertreter erklärt, dass die Beklagte den Kläger für offensichtlich ungeeignet hielt und deshalb auch nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen habe. |
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Der Beklagten-Vertreter erklärt sodann, dass es eine neue Ausschreibung für einen zu besetzenden Arbeitsplatz allerdings nur nach BAT Vergütungsgruppe E7 und zwar DAG-Abrechnung. Hier wäre morgen noch die Möglichkeit für den Kläger an einem Vorstellungsgespräch teilzunehmen oder Freitag um 15.00 Uhr. |
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Der Kläger erklärt, dass morgen in Hessen Feiertag sei und er sich aber gerne darauf bewerben würde. |
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Der Beklagten-Vertreter erklärt hierzu, dass das Bewerbungsverfahren schon durch sei. |
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Das Vorstellungsgespräch würde in Göttingen stattfinden. |
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Der Kläger erklärt, dass er am Freitag, dem 15.06. ebenfalls nicht könne. Er schreibe Freitagvormittag Prüfungen. |
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Das Gericht erteilt den Hinweis, dass von Frankfurt nach Göttingen relativ häufig Züge in relativ kurzer Zeit fahren. |
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Der Beklagten-Vertreter erklärt, dass die Führungskraft auch am 21.06. Zeit hätte. |
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Der Kläger erklärt, dass er lieber erstmal dieses Verfahren zu Ende bringen möchte. |
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Der Beklagten-Vertreter überreicht dem Kläger eine Visitenkarte mit seinen Kontaktdaten und der Bitte, ihn im Falle des Interesses an der Stelle zu kontaktieren, damit mit der Führungskraft spätestens am Freitag den 16. Juni 2017 ein Termin vereinbart werden kann. |
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…“ |
Rz. 8
Von diesem Angebot machte der Kläger keinen Gebrauch.
Rz. 9
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihm nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet, da sie ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe. Dies zeige sich schon daran, dass die Beklagte ihn entgegen § 82 Satz 2 SGB IX (in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung - im Folgenden SGB IX aF) nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen habe. Dass er das in der Güteverhandlung angebotene Vorstellungsgespräch nicht wahrgenommen habe, könne ihm nicht zum Nachteil, der Beklagten aber auch nicht zum Vorteil gereichen. Die Beklagte könne sich nicht dadurch ihrer Verpflichtung zur Zahlung einer angemessenen Entschädigung entziehen, dass sie ihm Monate nach der Absage für die Stelle in Oldenburg ein Vorstellungsgespräch für eine andere, zudem geringer dotierte Stelle an einem anderen Ort anbiete.
Rz. 10
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn eine Entschädigung iHv. 9.846,00 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19. April 2017 zu zahlen. |
Rz. 11
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, dem Kläger keine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu schulden.
Rz. 12
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und dem Kläger eine Entschädigung iHv. 1.000,00 Euro nebst Zinsen zugesprochen. Es hat die Revision gegen seine Entscheidung nicht zugelassen. Mit Beschluss vom 16. Mai 2019 (- 8 AZN 254/19 -) hat der Senat auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers die Revision insoweit zugelassen, als das Landesarbeitsgericht über die Höhe der Entschädigung erkannt hat. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren nach Zahlung einer Entschädigung iHv. insgesamt 9.846,00 Euro nebst Zinsen weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.